Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab
unter seinem Mantel hängen bleibt. »Was hast du angerichtet?«
»Bitte«, sagt James mit gebrochener Stimme. »Ich muss mit Mr Chalfont sprechen. Es ist wegen Arabella. Sie ist …«
Auch jetzt kann er das Wort nicht aussprechen. Doch der bekümmerte Ausdruck in Mrs Kickshaws Gesicht zeigt ihm, dass sie verstanden hat.
»Komm mit«, sagt sie, nimmt ihrem Mann die Laterne aus der Hand und dirigiert James in Richtung Haupteingang. Der Pförtner schließt hinter ihnen das Tor.
»Die arme Arabella«, sagt Mrs Kickshaw, während sie durch einen der überdachten Gänge zum Haus gehen. »Sie war so ein gutes, freundliches Kind. Konnte sie das Baby wenigstens noch sehen?«
Unglücklich schüttelt James den Kopf.
»Die arme Arabella«, sagt Mrs Kickshaw noch einmal, und diesmal bekreuzigt sie sich.
Sie öffnet eine Tür, und sie betreten die dunkle Eingangshalle. Nur das Ticken einer einsamen Uhr über ihnen unterbricht die Stille. Plötzlich überkommen James Flux die Erinnerungen: Felix, dick und schwer, wie er das Treppengeländer herunterrutscht; Kinder, wie sie zu zweit zur Kapelle gehen, um die neueste Musikkomposition zu hören; Schluchzen aus dem Abschiedszimmer im oberen Gang. In Gedanken sieht er wieder die überfüllte Kammer unter der Treppe vor sich, in der er einmal mit Arabella versteckt saß, nachdem sie Erdbeeren aus dem Garten stibitzt hatten. Er erinnert sich an das Pochen ihrer Herzen in dem engen Raum, an den frischen Duft ihres Atems an seiner Wange, den Geschmack nach Erdbeeren auf ihren Lippen …
»Warte hier«, sagt Mrs Kickshaw und lässt ihn allein im Dunkeln. Mit der Laterne steigt sie die Treppe hinauf.
An seiner Brust bewegt sich etwas. Das kleine Päckchen in seinem Arm hat angefangen sich zu regen und den Schlaf aus den Gliedern zu strampeln. Vorsichtig tastet der Mann unter seine Jacke und bringt das Baby mit dem hässlichen runzeligen Gesichtchen zum Vorschein – für ihn ein noch fremdes Wesen.
»Ah, nun schau dir das kleine Ding an«, sagt Mrs Kickshaw liebevoll, während sie die Treppe wieder heruntergerauscht kommt. Mit geübten Händen nimmt sie das Kind in die Arme und drückt es behutsam an ihre Brust. »Gott segne ihn. Er ist ganz der Vater.«
Sie legt eine von der harten Arbeit rau gewordene Hand auf den Kopf des Babys und streicht ihm den krausen Haarflaum aus der kleinen Stirn. James spürt seinen Verlust wie einen stechenden Schmerz in der Brust. Für einen Augenblick denkt er an Arabella, an die blutigen Leintücher, und alles in ihm wird starr und taub.
Mit suchenden Augen sieht das Baby ihn an und streckt dabei die Händchen, als wolle es nach den Worten greifen, die von den Lippen der Frau strömen: ein Schlaflied, das Mrs Kickshaw schon so manchem Findelkind vorgesungen hat. Das Baby umklammert den Finger der Frau und fängt an, mit leise schmatzenden Geräuschen daran zu saugen.
»Bist hungrig, Schätzchen, wie?«, gurrt Mrs Kickshaw zärtlich.
»James?« Eine Stimme lässt James aus seinen Erinnerungen hochschrecken, und er blickt auf. Vom oberen Treppenabsatz schaut Mr Chalfont herunter. »Komm rauf, Junge, komm rauf. Eliza wird sich um das Kind kümmern.«
James steigt die Treppenstufen hinauf und folgt der vertrauten Gestalt des Vorstehers in dessen Zimmer, während Mrs Kickshaw das Kind ins Babyzimmer bringt. Der rüstige kleine Mann, den er einst gekannt hatte, ist rundlich geworden, sein Haar schütter, und unwillkürlich muss James an den Tag denken, als Mr Chalfont ins Heim gekommen war, frisch von der Marine, und wie er die Jungen mit den Geschichten seiner Abenteuer auf hoher See begeistert hatte.
Dann steht James am Feuer im Arbeitszimmer des Vorstehers, um ihn herum Gegenstände, die an dessen früheres Leben erinnern. Er nimmt eine Meeresmuschel von einem Regal, hält sie an sein Ohr und kann das Rauschen der Wellen hören – das Geräusch, das ihn schon als Findelkind von einem Leben auf See hatte träumen lassen … Dann bemerkt er das Porträt von Mrs Chalfont über dem Schreibtisch, er tritt näher und betrachtet es aufmerksam.
»Erzähl mir, James«, sagt Mr Chalfont, während er sich in den Sessel vor dem Feuer sinken lässt und sein gichtkrankes Bein auf eine Fußbank legt. »Was ist geschehen?«
James merkt, wie sich seine Kehle zusammenschnürt. Seine Wangen werden heiß. Wieder sieht er die Hebamme hin und her eilen, schüsselweise Blut im Hof ausleeren und nach mehr heißem Wasser rufen. Dann denkt er an den qualvollen
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