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Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab

Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab

Titel: Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthew Skelton
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ein, die schwach beleuchtete Straße, auf der man direkt zum Eingangstor des Findelhauses kommt. Schon von weitem kann er es sehen, ein Bollwerk zu den Wiesen hin. Zwei von überdachten Gängen gesäumte Backsteingebäude stehen auf dem Gelände hinter dem Tor. Er blickt über die Reihen der Fenster, sucht den Raum, in dem er früher geschlafen hat, aber in seinem Kopf verschwimmt alles, er kann das richtige Fenster nicht finden.
    Ein Eisenzaun verläuft entlang der Vorderseite, die von einer einzelnen Laterne erhellt wird. Das Licht reicht kaum aus, um das darunter hängende Wappenschild des Heims zu beleuchten: ein wolliges Lamm, nach dem ein nacktes Kind Hilfe suchend die Arme ausstreckt. Daneben hängt eine Glocke, der Mann greift danach und läutet – viel heftiger, als er eigentlich wollte. Das Scheppern zerreißt die Stille, und in der Ferne schlägt ein Hund an, sein Gebell jagt Echos durch die Nacht.
    Ein Lichtstreifen fällt aus der Tür des Pförtnerhauses, das direkt hinter dem Eingangstor liegt, und ein Mann mit grau meliertem Stoppelhaar taucht auf. Er hat ein zerknittertes Nachthemd an. Wie ein schlecht gelaunter Igel kommt er über den aufgeweichten Zufahrtsweg geschlurft.
    »Wollen Sie wohl still sein, um Himmels willen?«, zischt er, als der Mann nicht aufhört zu läuten. »Sie wecken noch die Kinder auf!«
    Der Pförtner hält seine Laterne hoch und mustert den jungen Mann auf der anderen Seite des Zauns. Dem Aussehen nach ein Marineoffizier in einer durchnässten blauen Uniform. Dichte regenfeuchte Locken kleben an seiner Stirn.
    »Tut mir leid, Sir, aber wir haben keinen Platz«, sagt der Pförtner mit einem Blick auf das kleine Bündel, das der Mann behutsam unter seinem Mantel hält – die kostbare Fracht, die er meilenweit durch die Stadt getragen hat. »Wir haben so schon zu viele Mäuler zu stopfen, Sir.«
    »Bitte«, sagt der Offizier. »Sie müssen mir helfen! Meine Frau, verstehen Sie, sie ist … sie ist …«
    Er bringt das Wort nicht über die Lippen.
    »Kommen Sie wieder, wenn wir einen Platz haben«, sagt der Pförtner kopfschüttelnd und wendet die Augen ab. »Wir hängen ein Schild raus, sobald wir wieder ein Kind aufnehmen können.«
    Dem Offizier wird das Herz schwer. Er kennt das Aufnahmesystem des Heims nur zu gut. Die reinste Lotterie. Er hat schon gesehen, wie Mütter Schlange standen, um eine farbige Kugel aus einem Leinensack zu ziehen, und jede Kugel entschied über das Schicksal eines Neugeborenen: Eine weiße bedeutet, das Kind kann aufgenommen werden, falls die medizinische Untersuchung günstig ausfällt; eine rote, das Kind kommt auf eine Warteliste; eine schwarze, das Kind wird von vornherein abgewiesen. Es gibt viel mehr Babys als verfügbare Heimplätze.
    »Bitte!«, sagt er, streckt den Arm durch die Stäbe des Eisentors wie ein Gefangener und klammert sich an den anderen Mann. »Es geht um Leben und Tod.«
    »So ist es immer, Sir. So ist es immer.«
    »Aber ich kann nicht warten«, sagt der Offizier. »Morgen legt mein Schiff ab. Die Akademie ist auf mich angewiesen, ich kann sie nicht im Stich lassen. Rufen Sie Mr Chalfont. Sagen Sie ihm …«
    »Mr Chalfont?«, mischt sich nun eine Frau ein, die aus dem Pförtnerhaus hinter ihnen aufgetaucht ist. Sie stutzt, als sie den dunkelhaarigen Offizier sieht.
    Sie kommt eilig zum Tor und sieht ihn genauer an.
    »James?«, sagt sie dann. »James Flux? Bist du’s?«
    Ein verlegenes Lächeln huscht über das Gesicht des Mannes, und wie ein Junge tritt er von einem Fuß auf den andern. Jahre sind vergangen, aber vor ihm steht unverkennbar die Frau, die sich um ihn als Kind gekümmert hat. Damals war sie noch fast ein Mädchen, doch inzwischen hat sie einen ausladenden Busen und ist um die Taille füllig geworden. Ihr Gesicht aber ist noch dasselbe, gütig und verständnisvoll, verunstaltet nur von den Pockennarben auf ihrer Haut.
    »Komm, komm, Mann«, sagt sie, schubst den Pförtner beiseite und reißt ihm fast den Schlüsselbund aus der Hand. »Lass ihn ein, Mr Kickshaw, und zwar schnell!«
    Instinktiv schiebt sie eine blassbraune Locke unter ihre Musselin-Haube. »Nein, so was! James Flux!«, ruft sie aus. »Die Locken von diesem Rabauken würde ich doch überall wiedererkennen! Jesus, und wie er gewachsen ist!«
    Sie zieht James an sich, schließt ihn fest in ihre Arme, und schiebt ihn dann ebenso abrupt von sich. Sie betrachtet ihn von oben bis unten.
    »Allmächtiger!«, sagt sie, als ihr Blick an dem Bündel

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