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Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab

Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab

Titel: Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthew Skelton
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Dunstschleier über den Wiesen war womöglich noch dichter als tags zuvor, schon jetzt spürte er die Hitze buchstäblich gegen das Fensterglas drücken. Im Garten sprach Mrs Kickshaw mit den Dienstmägden, die gerade körbeweise Wäsche zur Waschküche brachten.
    Die Uhr auf dem Treppenabsatz fing an zu schlagen und Cirrus trat vom Fenster zurück.
    Es war lange her, seit er das Arbeitszimmer des Vorstehers zuletzt betreten hatte, unerwartete Erinnerungen regten sich in ihm. Dort, auf einem kleinen Tisch am Fenster lag das Fernglas, durch das man, wie Mr Chalfont einmal im Scherz gesagt hatte, bis zur anderen Seite der Welt schauen könne. Und daneben war eine Meeresmuschel, die, wenn man sie ans Ohr hielt, ein gleichmäßiges Rauschen hören ließ, ähnlich dem Atem eines Schlafenden … Plötzlich fiel ihm ein, wie ihn der Vorsteher auf seinem Knie hatte auf und ab hüpfen lassen und mit ihm Schiffsreise gespielt hatte, und ein Gefühl von Liebe überkam ihn.
    Über ihm knackte die Decke, und er richtete seine Gedanken wieder auf die Gegenwart. Er wusste nicht, was er eigentlich suchte, aber er wandte sich als Erstes den Schränken an der Wand zu. Sie sahen vielversprechend aus.
    Jeder der Schränke hatte von oben bis unten schmale Schubladen, und als er sie nach und nach öffnete, fand er allen möglichen Krimskrams darin. Knöpfe, Broschen, halbe Münzen, auch Papierschnipsel mit kurzen Mitteilungen und Gebeten.
     
    Bitte haben Sie Erbarmen mit diesem Kind, denn ich habe nicht die Möglichkeit, es zu versorgen. Ich bin nicht ohne Sünde, aber das Kind ist unschuldig …
     
    Meine Herren, ich bin von dem niederträchtigsten Mann verführt und ruiniert worden. Ich flehe Sie an, nehmen Sie dieses Kind auf …
     
    Sein Herz schlug schneller. Waren das die persönlichen Erkennungszeichen, von denen das Mädchen gesprochen hatte? Und wenn ja, gab es vielleicht auch eines für ihn?
    Er wühlte sich durch die Schubladen. Jeder Gegenstand war an einer zusammengeknoteten roten Schnur befestigt und mit einer Nummer gekennzeichnet – wahrscheinlich mit der Nummer, die das betreffende Kind auf seinem Medaillon um den Hals trug.
    Ein tiefer Zweifel überkam ihn. Er war der Junge ohne Nummer, der Junge, der nicht existierte … Was, wenn das Mädchen etwas falsch verstanden hatte? Wenn es für ihn gar kein solches Erkennungszeichen gab?
    Fieberhaft suchte er weiter, den Kopf voll trüber Gedanken. Doch jedes Stück war schon vergeben, war mit der Nummer eines Kindes versehen, eines Kindes, das geliebt worden war, das vermisst wurde und nach dem sich jemand sehnte.
    Er gehörte nicht dazu.
    Schließlich wandte er sich verzweifelt ab, drehte sich um und musterte den ganzen Raum. Mehr Schränke zum Durchsuchen gab es nicht, er hatte alle Erkennungszeichen gesehen. Da entdeckte er auf einem Tischchen ein dickes Buch. Er lief hin und fing an, darin zu blättern, und riss in der Hast beinahe die Seiten ein.
    Jede Seite war in Spalten und Reihen unterteilt, und darin standen Namen und Nummern der Kinder aufgelistet, die seit der Gründung des Heims vor vielen Jahren hier zurückgelassen worden waren. Hinter vielen der Einträge fand sich mit verblasster Tinte die Bemerkung ›tot‹ oder ›verstorben‹.
    Cirrus blätterte weiter bis zu einem Namen, den er kannte: Kind 4.018, Abraham Browne, eingeliefert 6. Juli 1771.
    Sein Freund Bottle Top!
    Er holte tief Luft und überflog die Seiten davor. Auf der Mitte der vorigen Seite fehlte ein Eintrag, hier war eine Lücke, wo seiner Vermutung nach ebenfalls der Name eines Kindes hätte stehen müssen. Ein Geist.
    Cirrus schauderte. Am Rand stand etwas, aber die Schrift war verblichen und schwer zu entziffern. Er trug das Buch zum Fenster, um die Worte genauer zu untersuchen. In der Spalte mit der Überschrift ›Bemerkungen‹ fand sich die knappe Angabe: Vater zahlt 100 Pfund für den Unterhalt des Jungen. Kind bekannt als C.F.
    Eine Woge von Schmerz und Scham überkam Cirrus, als wäre er ein zweites Mal im Heim abgeliefert worden. Sein Herz pochte wild, er konnte kaum atmen. Das Mädchen hatte also recht: Er hatte einen Vater. Aber dieser Vater hatte ihn nicht gewollt. Bezahlt hatte er dafür, dass er ihn loswurde! Er war für Geld weggegeben worden.
    Der Raum verschwamm plötzlich hinter einem Tränenschleier, und Cirrus wandte sich vom Fenster ab. Seine Beine zitterten, er sank in einen Sessel.
    Von einem ovalen Bild an der Wand lächelte ihm eine junge Frau entgegen. Sie hatte

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