Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab
Aufschrei seiner Frau, gefolgt von dem schwachen Schrei eines Neugeborenen. Und danach die entsetzliche Stille. Schlimmer als alles zusammen war diese Stille.
Tränen laufen ungehindert über seine Wangen.
Geduldig hört Mr Chalfont zu, als James seine Geschichte erzählt, und keiner der beiden bemerkt Mrs Kickshaw, die inzwischen mit dem Kind zurückgekommen ist.
»Ich wünschte, wir hätten Platz«, sagt Mr Chalfont schließlich. »Aber du weißt ja, wie es ist …«
»Bitte«, sagt James. »Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll. Ich weiß nicht, wohin. Das Heim ist mein einziges Zuhause.« Er spürt die aufsteigende Panik in seiner Stimme und versucht, sie zu unterdrücken.
»Es tut mir leid«, sagt Mr Chalfont noch einmal, »aber du musst auch versuchen zu verstehen. Unsere Möglichkeiten hier sind begrenzt. Wir können nichts tun.«
Er streckt die Arme aus wie um seine Worte zu unterstreichen, aber James sieht darin nur die Distanz, die zwischen ihnen steht.
»Ich kann bezahlen«, sagt er plötzlich und tastet in seiner Tasche nach dem Geld, das er bei sich hat. »Die Leute von der Akademie haben mir noch viel mehr versprochen. Das hier muss doch für seinen Unterhalt reichen, wenigstens fürs Erste.«
Mr Chalfont macht ein gekränktes Gesicht. »James!«, sagt er. »Du solltest besser als jeder andere wissen, dass ein Junge Liebe braucht – und Liebe verdient. Sei ihm ein Vater. Lass ihn nicht im Stich.«
James schüttelt den Kopf. »Sie verstehen nicht. Das Schiff liegt zum Auslaufen bereit in der Werft von Deptford. Ich muss morgen in See stechen.«
Er denkt an all die Vorbereitungen, die die Akademie für Naturwissenschaften in den letzten Monaten getroffen hat. Die Mitglieder haben keine Kosten gescheut, um das Schiff mit der besten Ausrüstung und allen Vorräten zu versehen. Er muss bis ans Ende der Welt segeln und den Atem Gottes ausfindig machen; er kann sie jetzt nicht enttäuschen.
Er spürt die Last der Verantwortung auf seinen Schultern, und als er nach seiner Terrella greift, erinnert er sich an das himmlische Feuer, das einst über der Destiny hing. Das Tor zum Himmel, hatte es der Geistliche genannt.
Plötzlich kommt ihm ein Gedanke. »Ich kann sie zurückholen«, murmelt er vor sich hin.
»James?«, sagt Mr Chalfont. »Ich verstehe nicht. Was meinst du, Junge?«
»Ich kann sie zurückholen«, sagt James jetzt entschiedener. »Ich werde bis ans Ende der Welt fahren und sie suchen!«
Mr Chalfont schüttelt den Kopf. »James, sei vernünftig, Junge! Du redest Unsinn.« Er dreht sich nach dem Bild seiner Frau um. »Meinst du nicht, dass ich meine Elizabeth täglich vermisse? Ich weiß, wie es ist, wenn man einen so geliebten, hoch geschätzten Menschen allzu früh verliert. Aber das ist der Wille Gottes. Da kann man nichts machen, ich nicht und auch sonst keiner. Wir müssen uns damit abfinden.«
Aber James sieht jetzt nur noch dieses überirdische Licht, wie es am Horizont aufschimmerte. »Ich muss es versuchen!«, ruft er. »Lassen Sie es mich wenigstens versuchen!«
»Aber denk doch an deinen Sohn, James!«, versucht Mr Chalfont ihn ein letztes Mal von seinem Vorhaben abzubringen. Doch er sieht, dass sich James längst entschieden hat, sein Blick ist weit in die Ferne gerichtet.
Seufzend wendet er sich dem Kind zu. »Dann lass deinem Sohn wenigstens ein Erkennungszeichen da«, sagt der Vorsteher. »Damit du ihn eines Tages zurückholen kannst.«
James betrachtet das Kind in Mrs Kickshaws Armen, und als er das ganze Ausmaß seiner Entscheidung begreift, muss er ein Schluchzen unterdrücken. Das Kind scheint die silbern leuchtende Kugel an James’ Hals anzuschauen.
»Geben Sie ihm das hier«, sagt er, löst mit zitternden Händen seine Terrella und gibt sie zusammen mit seinem ganzen Geld dem Vorsteher. »Es ist alles, was ich besitze. Schnell! Ehe ich es mir anders überlege.«
Mr Chalfonts Augen glänzen, doch widerstrebend nimmt er die Metallkugel und legt sie auf den Tisch unter das Porträt seiner Frau. Und dann, bevor er James zurückhalten kann, flieht dieser aus dem Zimmer, am Abschiedsraum vorbei und die Treppe hinunter, er wagt keinen Blick zurück, denn er befürchtet, wenn er nur eine Minute länger bliebe, er würde es nicht mehr fertigbringen zu gehen.
12 Jahre später
London 1783
Der Junge, den es nicht gab
Cirrus wachte auf. Er lag auf einem harten Holzboden in einem engen Raum, das rechte Bein verdreht. Vor seinem Gesicht schwebte ein
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