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Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab

Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab

Titel: Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthew Skelton
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feiner Lichtstrahl wie der Faden eines zerrissenen Spinnennetzes. Er rieb sanft seinen Nacken, versuchte, in dem kleinen beengten Raum eine bequemere Position zu finden und setzte sich auf. Was machte er hier? Und warum lag er nicht warm zugedeckt in seinem Bett?
    Dann fiel es ihm ein. Er versteckte sich vor jemandem.
    Schritte ließen ihn zusammenfahren, er drückte das Auge an einen Spalt in den Brettern und konnte so einen Ausschnitt der Eingangshalle sehen. Durch die offenen Fenster fiel Tageslicht in die Halle, vor der Tür sah er Mr Chalfont auf und ab gehen. Seine Perücke saß schief und sein Gehrock und die Kniehosen sahen faltig und unordentlich aus, als hätte er diese Nacht in Kleidern geschlafen.
    »Und?«, sagte der Vorsteher, als Mrs Kickshaw hereinkam.
    Sie schüttelte den Kopf und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Er ist nirgendwo zu finden«, sagte sie. »Ich hab in der Kapelle, im Pförtnerhaus und in der Krankenstation nachgesehen. Sie glauben doch nicht, dass er auf die Wiesen hinausgelaufen ist?«
    Mr Chalfont rang die Hände, ließ sie aber gleich wieder ratlos herabhängen. »Ich weiß es wirklich nicht«, sagte er. »Ich habe gestern Abend den Schlafsaal abgeschlossen wie immer, aber heute früh stand die Tür offen, und sein Bett war leer. Wie er hinauskommen konnte, ist mir ein Rätsel.«
    »Dieser kleine Teufelsbraten!«, sagte Mrs Kickshaw. »Na warte, bis ich den zu fassen krieg! Wie oft hab ich ihm eingeschärft, er soll sich nicht auf den Wiesen rumtreiben! Da draußen ist doch keiner sicher, ein Kind schon gar nicht!«
    Nur allmählich dämmerte es Cirrus, dass er der Junge war, den sie suchten. Er war versucht hinauszustürmen und sie mit seinem plötzlichen Auftauchen zu überraschen, aber die Furcht vor ihrem Ärger hielt ihn zurück. Also blieb er still und reglos in seinem Versteck sitzen.
    »Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Mrs Kickshaw den Vorsteher.
    »Weitersuchen, würde ich vorschlagen«, antwortete Mr Chalfont. »Ich habe die Jungen zur Sicherheit im Schlafsaal eingeschlossen und den Dienstmägden gesagt, sie sollen im Ostflügel bei den Mädchen nachsehen – falls er etwa die alten Tricks seines Vaters im Kopf hat. Sie suchen am besten das Gelände ab, und ich … ich werde …« Er brach ab und blickte sorgenvoll die Treppe hinauf.
    »Ja, Mr Chalfont«, sagte Mrs Kickshaw mit einem Knicks. »Und falls ich ihn finde, läute ich die Glocke.«
    Sie raffte ihre Röcke und eilte hinaus in den Hof, während Mr Chalfont schwerfällig die Treppe hinaufstieg. Seine Schritte polterten über die Stelle, unter der Cirrus zusammengekauert hockte.
    Nachdenklich lehnte sich der Junge zurück. Im Nebel der Erinnerung erschien ihm das Bild einer Frau in silbrig schimmerndem Kleid, die durch den Schlafsaal schlich. Sie hatte ein silbernes Ding in der Hand gehabt, mit dem sie Tobias verhext hatte. Und dann fiel ihm das rothaarige Mädchen ein. Seine Finger schlossen sich um den Schlüsselbund, den sie ihm dagelassen hatte und der zu Boden gefallen war. Wer war sie? Und warum war sie nicht zurückgekommen?
    Mit laut klopfendem Herzen arbeitete er sich aus seinem Versteck heraus und tauchte staubig und zerwühlt in der Eingangshalle auf. Zum Glück war weit und breit niemand zu sehen – er hatte ja noch immer sein Nachthemd an.
    Er schlich zum Fuß der Treppe und lauschte angestrengt.
    Von oben konnte er hören, wie der Vorsteher, vermutlich auf der Suche nach ihm, von einem Raum zum nächsten ging. Er wartete, bis die Schritte verhallten, dann stieg er so leise wie möglich die breite Treppe hinauf, sich immer dicht an der Wand haltend, wo die Stufen am wenigsten knarrten.
    Was hatte das Mädchen gesagt? Irgendetwas vom Arbeitszimmer des Vorstehers und seinem, Cirrus’, persönlichen Erkennungszeichen: einer Kugel …
    Auf Zehenspitzen ging er über den oberen Treppenabsatz, vorbei an der Standuhr in der Ecke und zur Bankreihe vor dem Abschiedszimmer. Er fasste die Schlüssel fester, überlegte schon, welchen er zuerst nehmen sollte, aber wie sich herausstellte, war gar keiner nötig. Die Tür zur Bildergalerie stand offen, und er schlüpfte lautlos hinein.
    Die Vorhänge waren zugezogen, in der Luft hing der Geruch von kaltem Tabak. Von dem Mädchen von gestern Nacht keine Spur. Das Kaminfeuer war zu matter Glut heruntergebrannt, die Porträts an der Wand ließen sich kaum erkennen.
    Cirrus zog einen der Vorhänge auf, um mehr Licht einzulassen. Der schwüle

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