Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab
ganz darauf an«, sagte sie, »ob du mir nun hilfst. Wo ist der Junge?«
Pandora stellte die Ingwerdose wieder auf den Schreibtisch und wich zurück.
»Ich hab’s doch gesagt«, fing sie an. »Er ist …«
Plötzlich stockte sie. Zum ersten Mal fiel ihr auf, wie kalt die Augen der Frau waren: ein eisiges, boshaft glitzerndes Blau. Und wie Eis schienen ihre Blicke Pandora nun einzuschließen. Madame Orrery fuhr mit dem Finger durch die Luft. Pandora konnte sich gegen den Bann nicht wehren. Ihr Herz zuckte angstvoll in der Brust.
Die silberne Uhr begann zu ticken, Pandora hörte ihren langsamen beschwörenden Rhythmus.
»Wo ist der Junge?«, fragte Madame Orrery wieder.
Die Stimme schien von weit her zu kommen. In Pandoras Kopf ging alles durcheinander. Ihre Gedanken waren unscharf und verworren. Eine betäubende Leere dehnte sich in ihrem Kopf aus, wie Nebel, und machte sie schläfrig und benommen. Und immer noch tickte die silberne Uhr …
»Wo ist der Junge?«
Kurz blitzte die Vorstellung von Cirrus Flux, der unter der Treppe versteckt saß, in ihrem Kopf auf, und sie war drauf und dran zu antworten, aber plötzlich tauchte ein anderer Junge vor ihrem geistigen Auge auf, ein viel jüngerer. Ihr toter Zwillingsbruder. Sie sah ihn mit so verblüffender Klarheit, dass es ihr den Atem verschlug.
»Welcher Junge?«, murmelte sie kaum hörbar.
»Der, den du beschützen willst.«
Eine Träne lief ihr über die Wange.
»Wo ist er?«
Die Erinnerung stürzte auf sie ein. Hopegood, wie er mit ihr über die Landstraßen gezogen war, wie es dunkel geworden war und sie den nächsten Bauernhof nicht hatte finden können. Der Junge hatte nicht aufgehört zu wimmern, hatte gezittert vor Kälte. Am Ende hatte sie ihn an einer Steinmauer zurücklassen müssen, während sie selbst weiter über die schlammigen Straßen gewatet war auf der Suche nach Hilfe.
Pandora wollte zurücklaufen und ihn retten, aber sie war so müde, und ihre Beine gehorchten ihr nicht mehr. »Er ist fort«, flüsterte sie. »Fort.«
»Und er hat die Kugel?«
Pandora wollte nur noch schlafen. Der Nebel hüllte sie immer dichter ein, zehrte an ihrer Energie. Die Augen fielen ihr zu, sie ließ den Kopf hängen.
Ehe sie antworten konnte, schlief sie bereits.
12 Jahre später
London 1771
James
Im Halbdunkel der hereinbrechenden Nacht eilt ein Mann durch die Straßen, taumelnd und scheinbar ziellos. Kutschen und Fuhrwerke rumpeln an ihm vorüber, aber er hastet weiter durch den peitschenden Regen, nur fort von der Szene, deren Zeuge er gerade gewesen ist.
»Ob der krank is?«, sagt eine Frau neben dem Ladeneingang in der Nähe.
»Nee. Eher besoffen«, sagt ihre Freundin, eine rothaarige Frau in schmuddeligem Spitzenkleid. »So oder so, nach was Weltlichem scheint er sich jedenfalls nich zu sehnen, oder? Schade eigentlich, wo er doch so jung is und gut aussieht, und überhaupt …«
Die beiden Frauen widmen ihre Aufmerksamkeit wieder den anderen Menschen auf der geschäftigen Straße. Wer weiß, ob der Mann nicht gar sterbenskrank ist? Das wahre Ausmaß seiner Verletzungen kann freilich keine der beiden Frauen ahnen. In seinen Augen ist ein panischer, gehetzter Blick, als lauere der Tod schon hinter der nächsten Ecke.
Nach einer Weile löst sich ein Fackeljunge aus dem Schutz eines Mauervorsprungs, wo er sich vor dem Regen untergestellt hat, und geht neben ihm her.
»Brauchen Sie Licht, Herr?«, sagt er und bläst auf seine Fackel, um sie hell auflodern zu lassen. Der Lichtschein fällt auf sein hoffnungsfrohes Gesicht, das der Regen stellenweise sauber gewaschen hat.
Der Mann schüttelt den Kopf und eilt weiter.
»Alles in Ordnung, Herr?«, sagt der Junge. »Ich kann Sie hinführen, wohin Sie wollen. Von Holborn nach Shoreditch, von Marylebone nach Chelsea …«
»Nein«, sagt der Mann. »Lass mich in Ruhe.«
»Wirklich, Sir, ich …«
»Ich hab gesagt, lass mich in Ruhe!«
Der Junge bleibt stehen. Seine Fackel sinkt langsam herab.
Da zögert der Mann kurz, greift mit der freien Hand in seine Tasche, kramt ein Geldstück heraus und wirft es dem Kind zu. Gierig schnappt der Junge danach, umschließt es mit den Fingern und verschwindet in einer Seitengasse, angelockt vom Duft kräftiger Fleischpastete und Soße.
Die Straßen sind glitschig vom Schlamm, der Mann rutscht auf den Pflastersteinen aus, stürzt beinahe, kann sich gerade noch fangen und stolpert weiter Richtung Stadtrand.
Endlich biegt er in die Red Lyon Street
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