Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab
mit ihr etwa vergrabene Schätze aufspüren konnte?
»Haben Sie sie noch?«, fragte der Mann unvermittelt. »Aber gewiss doch«, sagte Mr Chalfont. »Sie ist gut versteckt, das kann ich dir versichern.«
»Holen Sie sie«, sagte der Mann. »Ich nehme sie mit und verschwinde dann für immer von hier.«
»Aber sie gehört doch dem Jungen, sie ist sein persönliches Erinnerungsstück«, sagte Mr Chalfont erschöpft und schüttelte den Kopf. Trotzdem kam er der Aufforderung nach und ging zum Schreibtisch.
Hinter der Tür zog Cirrus die Luft ein, drückte sich so flach wie möglich gegen die Wand und betete, dass der Vorsteher ihn nicht entdecken möge. Der Mann war jetzt so nahe, dass Cirrus fast seine purpurrote Jacke hätte berühren können. Doch Mr Chalfont schien nur an einem interessiert zu sein. Er holte die Ingwerdose hervor und nahm sie mit sich in die Galerie.
»Hier, siehst du«, sagte er und nahm den Deckel ab. »Sie … sie ist weg!«
Die Farbe wich aus seinem Gesicht.
»Das muss diese Frau gewesen sein!«, sagte der Mann aus Black Mary’s Hole und machte Anstalten zu gehen.
»Nein, nein, die Kugel war heute Morgen noch da«, sagte der Vorsteher und hielt ihn zurück. »Ich habe ein paar stille Minuten mit meiner Elizabeth verbracht und mich vorher noch vergewissert.«
»Dann war’s der Junge!«, sagte der Fremde. »Er muss sie gefunden und sich damit aus dem Staub gemacht haben!«
»Cirrus?«, sagte der Vorsteher. »Aber das ist doch unmöglich! Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.« Seine Stimme schwankte, er schien sichtlich deprimiert.
»Da war auch ein Mädchen«, sagte der Fremde plötzlich, und Cirrus stockte das Blut in den Adern. Er wurde starr vor Schreck.
Überrascht sah der Vorsteher auf. »Ein Mädchen?«, sagte er. »Was für ein Mädchen? Hier war niemand außer Madame Orrery.«
»Das Mädchen, das über die hintere Mauer geklettert ist«, sprach der Fremde weiter. »Ich habe sie aus der Ferne beobachtet. Später hat Madame Orrery sie mitgenommen.«
»Da war kein Mädchen!«, beharrte Mr Chalfont, aber der andere Mann war schon unterwegs zur Treppe.
»Wo willst du hin?«, fragte der Vorsteher hilflos und eilte ihm nach.
»Das Mädchen suchen und herausfinden, was sie weiß. Kann gut sein, sie hat etwas damit zu tun.«
»Und was soll ich tun?«
»Weiter nach dem Jungen suchen. Und wenn Sie ihn finden, nehmen Sie auf jeden Fall seine Kugel wieder an sich. Hier in London ist sie nicht sicher. Jetzt nicht mehr, wo Madame Orrery und womöglich die ganze Akademie dahinter her ist.«
Mr Chalfont murmelte etwas in seinen Bart und folgte dem Fremden hinunter.
Hinter der Tür sank Cirrus zu Boden. In seinem Kopf drehte sich alles. Er fragte sich auf einmal, ob es überhaupt jemanden auf der Welt gab, dem er trauen konnte. Der Vorsteher schien den Mann von Black Mary’s Hole zu kennen und war offenbar bereit, ihm die Kugel zu überlassen. Selbst Mrs Kickshaw suchte nach ihm – und zweifellos würde auch sie dem Fremden die Kugel geben.
Wieder rollte er sie zwischen den Fingern. Wofür sie wohl gut war? Und noch während sich vor seinen Augen die Länder auf der Kugel drehten, traf er plötzlich eine Entscheidung: Er würde fliehen.
Er hängte sich die Schnur mit der Kugel um den Hals und steckte sie sorgfältig unter sein Nachthemd, dann lief er durch die Galerie hinaus auf den Treppenabsatz. Als ihm einfiel, dass Mr Chalfont gesagt hatte, er habe die Tür des Jungenschlafsaals abgeschlossen, tappte er leise die Treppe hinunter in die Eingangshalle.
Er würde sich von irgendwo ein paar Kleidungsstücke stehlen müssen.
Die Waschküche.
Nachdem der Vorsteher und der Mann aus Black Mary’s Hole außer Sicht waren, rannte er zur Rückseite der Kapelle und von dort quer über den Hof. Er zuckte zusammen, als er mit seinen nackten Füßen über die kleinen Kieselsteine lief. Dann, nachdem er sich vergewissert hatte, dass Mrs Kickshaw nirgendwo zu sehen war, kroch er zur Waschküche, schnappte sich wahllos eine Handvoll schmutziger Sachen und rannte damit zum Obstgarten auf der anderen Seite der Wiese.
Er duckte sich zwischen Büsche und Stauden, um seine neuen Kleider anzuziehen. Das Hemd, das er erwischt hatte, war viel zu klein, und so entschied er kurzerhand, stattdessen das Nachthemd anzubehalten. Er stopfte den Saum in den locker sitzenden Bund seiner Kniehose. Schuhe und Strümpfe hatte er keine. Zuletzt schlüpfte er in eine noch etwas feuchte Jacke und
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