Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab
Er wird keinen Ärger machen, bestimmt nicht.«
Cirrus blickte ihn erstaunt an, er überlegte, woher Bottle Top das Geld haben mochte. Mr Leechcraft aber hatte sich die Münze schon geschnappt und steckte sie in die eigene Tasche.
»Hmm«, machte er und musterte Cirrus skeptisch. Schließlich tippte er dem Jungen mit seinem Stock an die Brust. »Du bist doch ein Findelkind?«
»Ja, Sir«, sagte Cirrus und wich seinem Blick aus.
»Weggelaufen, wie?«
»Ja, Sir.«
»Sprich lauter, Junge! Ich kann dich nicht verstehen.«
»Ja, Sir.« Cirrus schrie fast.
»Und warum, bitte, bist du weggelaufen?«, wollte Mr Leechcraft wissen.
Cirrus zermarterte sich das Hirn nach einer plausiblen Erklärung, fand aber keine. Er sah kurz zu Bottle Top hin, der betroffen schien.
»Einfach, weil mich keiner haben wollte«, sagte Cirrus endlich und strich über seine Jackenknöpfe, die alle das Kennzeichen des Findelhauses trugen, ein kleines Lamm.
»Und sag mal, weiß jemand, wo du bist?«, fragte Mr Leechcraft.
»Nein, Sir«, sagte Cirrus. Er dachte an seine Flucht aus dem Heim. Unauffällig schob er die Kugel unter sein Nachthemd. »Ich glaube wenigstens nicht, Sir«, ergänzte er.
»Hmm«, machte Mr Leechcraft noch einmal. Er rieb sich das Kinn. »Ich könnte mir vorstellen, der Heimvorsteher würde mächtig gern erfahren, wo du steckst«, sagte er endlich. »Wer weiß, ob er nicht gar eine Belohnung zahlt für deine Rückkehr.«
»Nein, Sir«, sagte Cirrus schnell. Er dachte daran, wie Mr Chalfont sich mit dem Mann aus Black Mary’s Hole verschworen hatte. »Bitte sagen Sie Mr Chalfont nicht Bescheid, Sir. Lassen Sie mich lieber hier bei Ihnen arbeiten!«
»Bei mir arbeiten?«, sagte Mr Leechcraft entgeistert. »Und was soll mir so ein verdreckter Junge nützen?«
»Bitte, Sir«, sagte Cirrus und rieb über die Schmutzkruste an seinen Schienbeinen. »Ich kann allerhand.« Er dachte an all die Dinge, die er im Heim gelernt hatte – lauter Arbeiten, die ihm öde, alltäglich und langweilig erschienen waren.
»Ich kann nähen, putzen, Unkraut jäten«, sagte er und zählte seine Fähigkeiten an den Fingern ab. »Ich kenne sogar ein paar Wörter und Zahlen. Und ich kann viele Stellen aus der Bibel auswendig …«
»Du meinst also, ich brauche die Bibel?«, fragte Mr Leechcraft listig.
»Ja, Sir … ich meine, nein, Sir … ich meine, ich weiß nicht, Sir«, sagte Cirrus, der eine Falle in der Frage vermutete.
Nun kam Bottle Top ihm zu Hilfe. »Bitte, Sir. Erlauben Sie Cirrus, eine Weile zu bleiben. Er kann schwer arbeiten, Sir, genau wie ich, Sir. Er kann sich seinen Unterhalt bestimmt verdienen.«
»Ja, Sir«, sagte Cirrus und wischte wieder an der Dreckschicht an seinen Beinen.
»Hmm«, machte Mr Leechcraft zum dritten Mal und fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. Plötzlich erspähte er hinter dem Jungen einen wohlhabend aussehenden Herrn in einer goldbeschlagenen Kutsche und verzog den Mund zu einem breiten Lächeln. Kaum war die Kutsche vorbei, klappte er den Mund wieder zu wie eine Falle.
»Nun gut«, sagte er endlich und ging die Treppe zum Museum hinauf. »Komm rein, wenn es unbedingt sein muss, aber mach mir ja keine Dreckspuren auf den Boden. Sonst lasse ich sie dich mit der Zunge aufwischen.«
»Ja, Sir, danke, Sir«, sagte Cirrus und sprang hinter ihm die Steinstufen hinauf. »Ich verspreche Ihnen, dass ich Sie nicht enttäuschen werde, Sir. Ich werde alles tun, was sie wollen.«
Mr Leechcrafts Lächeln erschien wieder auf seinem Gesicht. »Oh, da mache ich mir keine Sorgen«, sagte er. »Da mache ich mir keine Sorgen.«
Die große Tür öffnete sich zu einem Marmorsaal voller Kuriositäten. Auf Steinsockeln und Podesten standen fremdartige Tiere, von den Wänden grinsten Masken an Totempfählen boshaft auf Cirrus herunter. Auch an der Decke waren alle möglichen Gegenstände zu sehen: ein umgekehrtes Kanu, ein Schwarm Seesterne und sogar ein langes ledriges Krokodil, das an unsichtbaren Drähten hing.
»Siehst du das dort?«, sagte Bottle Top neben ihm. »Das ist ein Grönlandbär. Davon gibt es nur noch wenige. Und das«, fügte er hinzu und deutete auf ein seltsames Tier, das sich durch eine der Wände zu zwängen schien, »das ist ein halber Elefant.«
»Wo ist die andere Hälfte?«, fragte Cirrus und sah sich um.
»Ich glaube, irgendwo im Dschungel, dort, wo ich ihn geschossen habe«, sagte Mr Leechcraft. Er hatte sich zu Cirrus heruntergebeugt und grinste ihn an wie das Krokodil, das
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