Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab
sicher schlimmer als eine Inspektion durch den Läusedoktor.
»Nur ein bisschen«, sagte Bottle Top mit leichtem Erröten. »Das Schlimmste war das Blut.«
Cirrus wurde fast übel vom Zuhören, als Bottle Top den Vorgang in leuchtenden Farben und bis in die letzte Einzelheit schilderte. Zuerst hatte Mr Fang die Zähne des Jungen mit Hammer und Meißel gelockert, dann war er mit einer blutverkrusteten Zange gekommen, hatte einen Backenzahn nach dem anderen gefasst und mit einer Seitwärtsdrehung herausgerissen.
»Überall war Blut«, sagte Bottle Top genüsslich. »Aber trotzdem, am Ende war’s die Sache wert.« Er blieb stehen, um in einem Glaskasten sein Spiegelbild zu betrachten. »Mr Leechcraft sagt, dass ich jetzt das Gesicht eines Engels habe … und auch die dazugehörige Tugend.«
Cirrus warf noch einen verstohlenen Blick auf den Vorhang an der Treppe. Ihm fiel ein, dass Mr Leechcraft das Wort Tugendhaftigkeit im Zusammenhang mit dem sonderbaren Knistern benutzt hatte, das er in Bottle Tops Haaren hervorrufen konnte. Dann sah er plötzlich die kiemenartigen Narben in Micahs Gesicht vor sich. Welche Schrecken mochten sich in diesem sogenannten Experimentieraum verbergen? Hatte er es sich eingebildet, oder war Bottle Top bei dem Wort zusammengezuckt?
»Und du, Cirrus?« Bottle Top schreckte ihn aus seinen Gedanken. »Wie kommst du ausgerechnet zum Haus der Wunder?«
Cirrus zögerte mit der Antwort. Er wusste nicht genau, was er sagen sollte. Plötzlich fühlte er sich beobachtet von all diesen Augen in Vitrinen und Schränken, von den Augen der Masken, den Augen der geschrumpften Köpfe und den leeren Augenhöhlen der Schädel, die ihn von den Regalen angrinsten. Vielleicht lag es auch an dem geheimnisvollen Raum hinter dem Vorhang, der ihn so quälend beschäftigte, jedenfalls wollte er Bottle Top noch nichts von seinem Vater und der Kugel erzählen. Stattdessen erzählte er ihm, wie er tags zuvor, ehe er weggelaufen war, in aller Frühe heimlich zum Galgenbaum gegangen war und dem Mann aus Black Mary’s Hole nachspioniert hatte. Er ließ seine Geschichte wie ein Abenteuer klingen. Anschließend berichtete er noch von seiner Begegnung mit Halsabschneider-Charlie, wie er gerade noch entkommen konnte und wie er dann auf Jonas gestoßen war, der ihn schließlich hierhergebracht hatte.
»Und jetzt bist du hier, und wir sind wieder zusammen«, sagte Bottle Top vergnügt. Er hängte sich bei ihm ein und führte ihn zurück durch das Haus der Wunder. »Wie früher.«
Cirrus nickte. »Wie früher«, sagte er, doch sein Lächeln schwand, als sie wieder an dem dunklen Vorhang an der Treppe vorbeikamen.
Das Mondsegel
Madame Orrery packte Pandora am Arm und schleifte sie die Treppe hinauf.
»Du fasches kleines Biest! Du neugieriges Ding!«, rief sie. »Nun sieh dir an, was du getan hast! Dank dir ist dieser verflixte Junge verschwunden. Und nun sucht anscheinend auch noch dieser abscheuliche Mann in seinem Höllengefährt nach ihm! Du kannst nur beten, Kind, dass ich den Jungen als Erste finde! Andernfalls garantiere ich dir, dass du aus diesem Raum nicht mehr hinauskommen wirst. Ich lass dich hier oben verfaulen!«
Damit stieß sie Pandora in ihre Kammer unter dem Dach und schlug die Tür hinter sich zu. Sie drehte den Schlüssel im Schloss und stürmte wütend die Treppe hinunter.
Einen Augenblick blieb Pandora fassungslos stehen, dann trat sie hastig ans Fenster. Sie hoffte, der Mann vom Abend zuvor wäre vielleicht da und würde ihr helfen. Auf dem Rückweg von Mr Sidereals Observatorium hatte sie beschlossen, ihn um Unterstützung zu bitten – wenn schon nicht, um sie aus MadameOrrerys Haus zu befreien, dann wenigstens, um den Heimvorsteher zu benachrichtigen, dass sie in Schwierigkeiten sei und seine Hilfe brauche. Doch am Himmel waren nur Sturmwolken zu sehen, keine Spur von dem geheimnisvollen Fremden.
Wieder blieb ihr Blick an dem tapferen jungen Ritter auf der Kirche gegenüber hängen, der seine Speerspitze in den gekrümmten Leib eines Drachens stieß. Wie wünschte sie, er könnte sie beschützen! Als sie den flachen Schild in seiner Hand sah, einen kreisrunden Spiegel, musste sie an Mr Sidereal denken. Was hatte er gesagt? Seine Linsen waren auf den höchsten Dächern und Türmen der Stadt angebracht und auf die Straßen gerichtet …
Plötzlich spürte sie sein Auge, spürte, wie er sie aus seinem Observatorium auf der anderen Seite der Stadt beobachtete, und sie wich vom Fenster
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