Clancy, Tom
plötzlich als zu deutsch und wurde deshalb zu Petrograd verändert.
Im Jahr 1924 wurde die Stadt, sieben Jahre nach der bolschewistischen Revolution
und einige Tage nach Wladimir Lenins Tod, in Leningrad umbenannt. Nach dem
Zusammenbruch der Sowjetunion bekam sie dann ihren alten Namen Sankt
Petersburg zurück.
Sankt Petersburg, eine Zeitkapsel der russischen Geschichte. Kein
schlechter Buchtitel, dachte er. Zu schade, dass er keinerlei schriftstellerische
Ambitionen hatte. Die Zaren, die Bolschewisten, der Untergang des roten
Imperiums und schließlich die Demokratie - wenn auch vielleicht eine Demokratie
mit einem leicht totalitären Anstrich.
Heute war
es besonders kalt. Ein heftiger Wind wehte von der Newa herauf und pfiff durch
die Äste der Bäume. Der herumliegende Abfall, der im Dunkeln nicht zu sehen
war, wurde über den Beton und das Kopfsteinpflaster getrieben. Aus einer in
der Nähe liegenden Gasse war das Klirren einer Flasche und danach ein unterdrückter
Fluch zu hören. Irgendeinem Penner war jetzt der Wodka ausgegangen, oder er
hatte den letzten Rest verschüttet. Trotz seiner Liebe zu Sankt Petersburg
wusste Juri, dass dessen beste Tage lange vorbei waren. Dies galt wohl auch für
das ganze Land.
Der
Zusammenbruch der Sowjetunion bedeutete für alle eine gewaltige Umstellung, und
vor allem sein früherer Arbeitgeber, der KGB, durchlief eine stürmische Zeit.
Aus ihm gingen dann sowohl die Federalnaja Sluschba Besopasnosti (FSB), der
Föderale Dienst für Sicherheit, als auch die Sluschba Wneschnei Raswedki
(SVR), der »Auslandsnachrichtendienst«, hervor. Dies waren nur die letzten in
einer langen Reihe von Akronymen, unter denen der russische Geheimdienst
operiert hatte, an deren Anfang die gefürchtete Tscheka gestanden hatte. Der
effizienteste und gefürchtetste all dieser Buchstabensuppen-Vorgänger und
-Nachfolger war jedoch wohl der KGB, das »Komitee für Staatssicherheit«.
Bevor er
1993 mit einer minimalen Rente in den Ruhestand trat, hatte Juri für die
KGB-Elitetruppe, die Abteilung S (Illegale) der Ersten Hauptverwaltung (Auslandsaufklärung),
gearbeitet. Dies waren die echten Spione. Sie hatten keinen Diplomatenstatus,
keine Botschaft, in die sie sich flüchten konnten. Wenn sie aufflogen, wurden
sie nicht abgeschoben, sondern eingesperrt oder sogar getötet. Er hatte einige
Erfolge erzielt, die allerdings nicht so spektakulär waren, dass sie ihn in
die höheren Ränge des KGB hinaufkatapultiert hätten. So fand er sich im Alter von
45 Jahren arbeitslos auf den Moskauer Straßen wieder, mit beruflichen
Fähigkeiten, die ihm nur wenige Karrierewege eröffneten: private
nachrichtendienstliche Arbeit, Sicherheitsdienste und Personenschutz oder das
organisierte Verbrechen. Juri hatte sich für das Erste entschieden und eine
Beratungsfirma gegründet, deren Zielgruppe die unzähligen westlichen
Investoren waren, die in der Frühzeit der postsowjetischen Herrschaft Russland
regelrecht stürmten. Juri verdankte seine ersten Erfolge zu einem gewissen Grad
der Krasnaja Mafija, der Roten Mafia, und ihren größten Banden, der
Solnzewskaja Bratwa, der Dolgoprudnenskaja und der Ismailowskaja, die alle
emsig begonnen hatten, die chaotische russische Wirtschaft auszuplündern,
bevor die ersten ausländischen Investoren ins Land gekommen waren. Natürlich
kümmerte sich die Krasnaja Mafija in keiner Weise um die subtilen Nettigkeiten
des üblichen Wirtschaftsgebarens, und die Investoren aus Europa und Amerika
waren sich dessen nur allzu bewusst, ein Umstand, den Juri mit Freuden zu
seinen eigenen Gunsten ausbeuten konnte. Ausbeuten war
überhaupt das Schlüsselwort jener Zeit. Der einzige Unterschied zwischen ihm
selbst, der Mafia und dem gewöhnlichen Straßengangster waren die Methoden, mit
denen sie ihr Ziel erreichen wollten. Für Juri lautete die Methode ganz
einfach: Schutz. Er sorgte dafür, dass die ausländischen Geschäftsleute am
Leben blieben und nicht entführt wurden. Einige der kleineren Banden, die nicht
die Ressourcen besaßen, um ihre eigenen Schutz- und Erpressungsspielchen
durchzuführen, hatten sich auf die Entführung gut gekleideter Europäer oder
Amerikaner verlegt, die in den besten Moskauer Hotels abgestiegen waren. Ihrem
Erpresserbrief fügten sie dann ein abgeschnittenes Ohr, einen Finger oder eine
Zehe, manchmal sogar noch etwas Schlimmeres bei. Die örtliche unterbezahlte und
überlastete Miliz war dagegen weitgehend machtlos. Meistens wurde das Opfer
umgebracht,
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