Clancy, Tom
Partner Gennadi Oleksei stand einige Meter entfernt. Zwischen
seinen zu einem leichten Lächeln verzogenen Lippen baumelte eine Zigarette.
Seine Hände steckten tief in den Taschen seines Ledermantels.
Über
Olekseis Schulter hinweg konnte Rosichina die uniformierten Milizbeamten sehen,
die gerade alle Restaurantbesucher durch die Eingangstür nach draußen
getrieben hatten. Dort standen diese nun und warteten darauf, befragt zu
werden. Die Mitarbeiter des Restaurants, vier Kellner, ein Kassierer und drei
Köche, saßen jetzt an den frei gewordenen Tischen und nannten einem weiteren
Milizionär ihre Personalien.
Oleksei
und Rosichina arbeiteten für das Hauptbüro für die Bekämpfung von
Finanzverbrechen, eine Untergliederung der Kriminalabteilung der Sankt
Petersburger Miliz. Im Gegensatz zu den meisten westlichen Polizeibehörden
hatten die russischen Operatiwniks keine festen Partner. Den Grund hierfür
hatte Rosichina bisher niemand erklärt, er nahm jedoch an, dass es etwas mit
der Finanzknappheit der Miliz zu tun hatte. Alles hatte mit der Finanzierung zu
tun, ob es nun darum ging, dass einem der eigene Einsatzwagen nur von Woche zu
Woche zugeteilt wurde, oder darum, ob man allein oder mit einem Kollegen
arbeiten musste.
»Hat man
dich auch mit der Bearbeitung dieser Sache hier betraut?«
»Sie haben
mich daheim angerufen. Wie weit weg stand der Schütze?«, entgegnete Oleksei.
»Zwischen
sechzig Zentimetern und ein Meter achtzig. Ein leichter Schuss.« Plötzlich
bemerkte er, dass etwas auf der Sitzfläche hinter dem Hinterteil des Opfers
lag. Er beugte sich vor, um es sich genauer anzusehen. »Er hatte eine Pistole«,
teilte er Oleksei mit. »Eine halbautomatische. Sieht aus wie eine Makarow. Er
hat noch versucht, sie zu ziehen. Eine Sekunde schneller und vielleicht...«
»Da habe
ich eine Frage für dich«, sagte Oleksei. »Würdest du lieber wie unser Freund
hier abtreten und wissen, was dich erwartet, oder wäre es dir lieber ... puff,
und du bist weg, ohne etwas gemerkt zu haben?«
»Lieber
Gott, Gennadi ...«
»Komm,
spiel schon mit.«
Rosichina
seufzte. »Ich glaube, ich würde am liebsten im Schlaf sterben - mit hundert
Jahren, und neben mir liegt Natalja.«
»Pawel,
Pawel ... Du gehst nie auf mich ein.«
»Tut mir
leid. Ich mag das Ganze hier nicht. Irgendwas stinkt. Es sieht wie ein
normaler Mafiamord aus, aber das Opfer passt einfach nicht dazu. So jemand
setzt sich doch nicht in ein solches Lokal.«
»Er war
entweder sehr tapfer oder sehr dämlich«, sagte Oleksei.
»Oder
verzweifelt.« An einem Ort wie diesem musste ihr »weißes« russisches Opfer mehr
gesucht haben als eine Schüssel gutes Djepelgesch und diese
fürchterliche Pondur-Musik, die für Pawel wie das Geschrei liebestoller Katzen
klang.
»Oder
richtig hungrig«, fügte Oleksei hinzu. »War er vielleicht ein Mafiaboss? Er
kommt mir nicht bekannt vor, aber wir könnten ihn in unseren Akten haben.«
»Das
bezweifle ich. Die sind nie ohne ihre eigene kleine Armee unterwegs. Selbst
wenn es jemand gelungen wäre, ihn hierherzulocken und ihm aus dieser Entfernung
eine Kugel in den Kopf zu jagen, hätten seine Leibwächter eine fürchterliche
Schießerei veranstaltet. Dann gäbe es überall hier Einschüsse und viel mehr
Leichen. Nein, wir haben hier nur dieses eine Projektil und einen einzigen
Toten. Das sieht geplant aus. Ein professionell gelegter Hinterhalt. Die Frage
ist nur, wer ist er und warum war er wichtig genug, um ermordet zu werden?«
»Nun, die
Typen hier werden uns die Antwort bestimmt nicht verraten.«
Rosichina
wusste, dass sein Partner recht hatte. Die Angst vor oder die Treue zur
Obschina ließ im Allgemeinen selbst die redseligsten Leute verstummen. Die
Zeugenaussagen würde man bestimmt in eine von drei Kategorien einordnen können:
Ich habe nichts gesehen; ein Vermummter stürmte herein, erschoss den Mann und
lief dann weg, es ging alles so schnell; und Rosichinas Lieblingsaussage: Ja ne goworju porusski. Ich spreche kein Russisch.
Von all
diesen Behauptungen würde wahrscheinlich nur eine stimmen: Es ging alles so
schnell. Er machte ihnen allerdings auch keine Vorwürfe. Die Krasnaja Mafija,
die Bratwa (Bruderschaft) oder die Obschina, wie immer ihr Name oder ihre
Bezeichnung lauten sollte, war von beispielloser Unbarmherzigkeit. Zeugen
wurden oft samt ihrer ganzen Familie umgebracht, weil irgendein Boss in
irgendeinem dunklen Keller entschieden hatte, dass diese Person Informationen
haben könnte,
Weitere Kostenlose Bücher