Clancy, Tom
offiziell für tot erklärt worden war, musste es liegen bleiben
und weiterhin mit seinen leeren, glasigen Augen die Decke anstarren.
»Er ist
auf dem Weg«, sagte Oleksei. »Ich habe mich erkundigt, bevor ich hierherkam. Er
hat heute Nacht wohl ziemlich viel zu tun.«
Rosichina
beugte sich nach vorn, steckte den Zeigefinger in den Abzugsbügel der Pistole
und hob sie vorsichtig hoch. »Neun Millimeter.« Er entfernte das Magazin und
zog den Schlitten zurück. Eine Patrone fiel aus der Kammer heraus auf den
Boden.
»Nun ja,
immerhin war er auf alles vorbereitet. Fehlt ein Schuss?«
Rosichina
schüttelte den Kopf und roch am Lauf. »Das ging viel zu schnell, nehme ich an.
Sie wurde erst vor Kurzem gereinigt. He, ich will verdammt sein ... Schau mal,
Gennadi, man hat ausgerechnet die Seriennummer entfernt.«
»Es
geschehen anscheinend doch noch Zeichen und Wunder.«
Verbrecher
entfernten oft mit Säure die Seriennummern von Mordwaffen, brachten dann aber
nur selten eine neue Nummer auf. Wenn dies auch hier der Fall war, konnte man
sie wieder sichtbar machen und hatte eine erste Spur. Einäugiger Optimismus
eben.
Und wahrscheinlich völlig unangebracht, rief sich
Rosichina selbst zur Ordnung.
Wie oft
bei Mordfällen, ob nun im Westen oder in Moskau, würden Leutnant Rosichina und
Oleksei sowohl von den Gästen, die zum Zeitpunkt des Mordes im Restaurant
anwesend waren, als auch den Leuten, die in unmittelbarer Nachbarschaft des
Lokals wohnten, kaum etwas erfahren. Die tschetschenische Gemeinschaft hielt
eng zusammen, misstraute der Polizei und hatte furchtbare Angst vor der
Obschina, Und das aus gutem Grund. Deren Brutalität kannte keine Grenzen. Ein
Zeuge, der redete, würde dafür nicht nur mit seinem eigenen Leben, sondern
auch mit dem seiner Familie zahlen. Wahrscheinlich würde er deren Ermordung
sogar noch mit ansehen müssen, bevor man ihn selbst umbrachte. Die Aussicht,
miterleben zu müssen, wie das eigene Kind mit einer Metallsäge in Stücke
zerteilt wurde, verschloss auch noch die losesten Lippen. Trotzdem hatte
Rosichina kaum eine andere Wahl, als auch noch die unergiebigste Aussage
aufzunehmen und allen Spuren zu folgen, so belangslos sie auch sein mochten.
Sie würden
also auch diesen Mord mit aller Sorgfalt untersuchen. Am Ende würden sich
jedoch die wenigen kleinen Spuren in Luft auflösen, und sie würden den Fall als
ungeklärt ablegen müssen. Bei diesem Gedanken schaute Rosichina das Opfer
traurig an. »Tut mir leid, mein Freund.«
»Komische
Sache, dachte Jack Ryan jr., dass niemand zu dieser Geburt gratulierte. Nicht
ein einziger Mensch. Jack hatte auf seinem Computer alles doppelt gecheckt,
sämtliche Mitteilungen auf dem monströsen Server des Campus mit seinen
Terabytes in diversen Arbeitsspeichern. Er hatte die meisten jüngeren
Dokumente heruntergeladen und hatte Autor oder Sender und Empfänger notiert.
Meist hatte es sich dabei um obskure alphanumerische Kombinationen gehandelt,
die vielleicht mit den Echtnamen in Beziehung standen, vielleicht aber auch
nicht. Schließlich hatte Jack die Suche auch auf E-Mails ausgeweitet, die in
den letzten sechs Monaten verschickt worden waren, und ein schnelles Tabellenkalkulationsprogramm
darüber laufen lassen. Und tatsächlich war der Datenverkehr recht stabil
gewesen und von Monat zu Monat um kaum mehr als fünf Prozent abgewichen. Doch
nun, innerhalb weniger Tage nach der Geburtsanzeige, war die Datenverkehrsrate
senkrecht abgestürzt. Abgesehen von ein paar Routinebotschaften, die
wahrscheinlich schon vor der Geburtsanzeige verschickt worden waren und
irgendwo im Cyberspace stecken geblieben sein mochten, gab es überhaupt keine E-Mails mehr. Der Emir und sein
URC - der Umayyad-Revolutionsrat - hatten gewissermaßen jeglichen Funkverkehr
eingestellt, eine Vorstellung, die Jack kalte Schauer über den Rücken jagte. Es
gab drei Möglichkeiten. Entweder hatten sie als allgemeine Vorsichtsmaßnahme
das Kommunikationsprotokoll geändert, oder sie hatten irgendwie herausgefunden,
dass jemand ihre Mails mitlas - oder es handelte sich um eine OpSec-Maßnahme,
die der operativen Sicherheit diente, um vor einer wichtigen Operation alle
elektronischen Lippen zu versiegeln. Die beiden ersten Optionen waren möglich,
aber doch eher unwahrscheinlich. Der URC hatte seine Methoden in den letzten
neun Monaten nur selten verändert, und der Campus hatte immer großen Wert
darauf gelegt, sich nicht zu verraten. Also könnte es die dritte Option
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