Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Clancy, Tom

Clancy, Tom

Titel: Clancy, Tom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dead or Alive
Vom Netzwerk:
die sie den Behörden mitteilen könnte. Und dabei war der tatsächliche
Tod oft nicht einmal das Schlimmste, wusste Rosichina. Die Mafia war für ihre
ausgeklügelten und zeitaufwendigen Exekutionsmethoden berühmt. Was würde er
unter ähnlichen Umständen tun?, fragte er sich. Die Mafia tötete gewöhnlich
zwar keine Milizbeamten, weil dies schlecht fürs Geschäft war. Trotzdem war
auch dies in der Vergangenheit schon vorgekommen. Bewaffnet und gut
ausgebildet, wie sie waren, konnten die Polizisten sich zwar selbst schützen,
aber welche Chance hätte in dieser Hinsicht ein Durchschnittsbürger, wie etwa
ein Lehrer, Fabrikarbeiter oder Buchhalter? Nicht die geringste. Die Miliz
hatte weder das Geld noch das Personal, um jeden Zeugen zu beschützen. Der
Normalbürger wusste das, schwieg und hielt sich aus allem heraus. Auch jetzt
hatten einige Restaurantgäste Angst um ihr Leben, weil sie einfach zur
falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren. Es war eigentlich ein Wunder, dass
Lokale wie dieses hier noch nicht aus Gästemangel schließen mussten.
    Wegen
dieser Art von Angst, dachte Rosichina, sehnten sich die Leute nach den alten
Zeiten zurück, als Stalin und die Stalinisten noch für Ordnung im Land gesorgt
hatten. In vielerlei Hinsicht wollte Putin durch seine »Reformprogramme« diesem
Bedürfnis nach Ordnung und Sicherheit nachkommen. Es gab da jedoch nur das
eine oder das andere. Solange es in Russland politische Freiheiten,
Persönlichkeitsrechte und einen offenen Markt gab, würde es auch große und
kleine Verbrechen geben. (Die gab es im Übrigen auch unter Stalin, wenngleich
nicht in diesem Ausmaß.) Aber dies waren natürlich weitgehend vorgeschobene
Argumente, mit deren Hilfe altkommunistische Betonköpfe und Ultranationalisten
die Demokratie und den Kapitalismus verleumden wollten. Dabei vergaßen oder
übersahen sie, dass die eisenharte sowjetische Kontrolle über das ganze Land
einen wirklich hohen Preis gefordert hatte. Aber wie lautete nicht das alte
russische Sprichwort? Hieß es darin nicht, dass Mühsal und Not zu einem
schlechten Gedächtnis führten? Rosichinas Vater, der aus einer jakutischen
Fischerfamilie stammte, pflegte diesen Gedanken auf seine Weise auszudrücken:
»Wenn du eine alte Vettel zur Frau hast, sieht selbst die hässlichste
Exfreundin reizend aus.« Und Sowjetrussland war eben eine solche hässliche
Exfreundin. Sicherlich hatte sie auch ihre positiven Seiten, aber nichts,
weswegen Pawel sie sich zurückgewünscht hätte. Unglücklicherweise waren viele
seiner Mitbürger ganz anderer Meinung. Etwa vierzig Prozent laut den letzten
Meinungsumfragen, wenngleich diese mit Vorsicht zu genießen waren. Vielleicht
hatte aber auch Oleksei recht, der ihm kürzlich vorgeworfen hatte, er sei ein
einäugiger Optimist. Oder hatte er sogar »blinder Optimist« gesagt?
    Als
Rosichina jetzt durch das Eingangsfenster des Restaurants schaute, konnte er
beobachten, wie die Gäste mit grimmigen Gesichtern in engen Gruppen beieinanderstanden,
wobei ihr Atem in der kalten Luft kleine Wölkchen bildete. Er begann sich zu
fragen, ob sein Optimismus womöglich völlig unangebracht sein könnte. Rund
dreißig Restaurantbesucher hatten vor gerade einmal zwanzig Minuten gesehen,
wie einem Mann das Gehirn aus dem Schädel gepustet worden war. Trotzdem würde
wahrscheinlich niemand den kleinen Finger rühren, um ihnen bei der Jagd nach
dem Mörder zu helfen.
    »Stimmt,
aber man kann ja nie wissen«, antwortete Rosichina. »Besser, man fragt und wird
überrascht, als andersherum - glaubst du nicht?«
    Oleksei
zuckte die Achseln und lächelte, wie nur ein russischer Fatalist es
fertigbrachte. Was konnte man schon tun? Oleksei regte kaum etwas auf; seine
permanente Gelassenheit war ebenso ein Teil von ihm wie die Zigarette, die er
ständig im Mundwinkel hatte.
    Andererseits
gaben die Zeugen in seltenen Fällen unabsichtlich doch ein paar nützliche
Details preis, denen sie dann nachgehen konnten. Allerdings waren die Aussagen
weit häufiger vage oder widersprüchlich oder beides, sodass die Ermittler ganz
allein auf die Erkenntnisse aus der Untersuchung der Leiche oder der Leichen
angewiesen waren.
    »Außerdem«,
sagte Rosichina, »dürften wir ohne all diese nutzlosen Zeugenaussagen nachher
nicht noch vier wunderschöne Stunden lang bei schlechtem Kaffee Berichte
abfassen.«
    »Vier Stunden?
Wenn wir Glück haben.«
    »Verdammt,
wo bleibt nur der amtliche Leichenbeschauer?«
    Solange
das Opfer nicht

Weitere Kostenlose Bücher