Clancy, Tom
hier ein Missverständnis vorliege und
keine Fernsehkameras auf sie warteten. Das libysche Volk wolle einfach nur
seine Dankbarkeit ausdrücken. Clark dachte eine Weile nach und gab dann
achselzuckend seine Zustimmung.
»Ein wenig
internationale Vertrauensbildung«, brummelte er Alistair Stanley zu.
Zehn
Minuten später traten Chavez, sein Team und die Geiseln im gleißenden Licht von
Jupiterlampen und unter lautem Applaus aus dem Haupteingang der Botschaft
heraus. Am Tor warteten ein Kontingent des Schwedischen Sicherheitsdiensts, der
Säkerhetspolisen, und Beamte der Rikskriminalpolisen, um die Geiseln zu
übernehmen. Nach zwei Minuten voller Umarmungen und allgemeinem Händeschütteln
traten Chavez und sein Team auf die Straße hinaus, wo ihnen Offiziere und
einfache Soldaten der Volksmiliz auf die Schultern klopften und begeistert
applaudierten.
Richards
tauchte plötzlich neben Chavez auf, als sich die ganze Truppe durch die Menge
zum Befehlsstand durchkämpfte. »Was zum Teufel geht hier eigentlich vor?«,
schrie Chavez.
»Ich habe
Schwierigkeiten, den genauen Wortlaut zu verstehen«, antwortete Richards, »aber
sie scheinen einfach nur beeindruckt zu sein. Nein, erstaunt, überrascht ist wohl die treffendere
Beschreibung.«
Hinter
Chavez brüllte Showalter: »Weshalb, verdammt? Was hatten die denn verflucht
noch mal erwartet?«
»Opfer!
Einen Haufen Tote! Sie erwarteten nicht, dass es eine einzige Geisel lebend
heraus schaffen würde, geschweige denn alle. Sie feiern einfach!«
»Ohne
Scheiß?«, rief Bianco. »Sind wir etwa Amateure?«
Richards
antwortete, ohne sich umzudrehen: »Was Geiselbefreiungen angeht, haben sie
nicht gerade eine imposante Erfolgsbilanz vorzuweisen.«
Chavez
musste lächeln. »Nun ja, wir sind eben die Rainbow-Truppe.«
Wäre er in einer besseren Geistesverfassung gewesen, dann hätte
Nigel Embling seine gegenwärtige Stimmung ganz einfach als elendes
Selbstmitleid erkannt, aber im Moment war er der festen Überzeugung, dass die
Welt alsbald schnell und direkt zur Hölle fahren würde. Später sollte er diese
Einschätzung vermutlich revidieren, aber hier an seinem Küchentisch mit einer
Tasse Tee und dem Daily Mashriq, einer der
sechs Tageszeitungen im pakistanischen Peshawar, verbesserte nichts von dem,
was er las, seine Laune.
»Verdammte
Idioten«, grummelte er.
Sein
Hausdiener Mahmud erschien geräuschlos wie ein Gespenst in der Küchentür. »Ja,
bitte, Mr. Nigel?« Mahmud, elf Jahre alt, war entschieden zu fröhlich und
eifrig — besonders zu dieser Tageszeit -, aber Embling wusste, dass sein
Haushalt ohne ihn im Chaos versinken würde.
»Nein,
nein, Mahmud, ich rede mit mir selbst.«
»Oh, das
ist nicht gut, Sir, überhaupt nicht. Verrückt, das werden die Leute denken.
Bitte achten Sie darauf, dass Sie nur zu Hause mit sich selbst sprechen, ja?«
»Ja, ist
gut. Geh jetzt wieder an deine Hausaufgaben.«
»Ja, Mr.
Nigel.«
Mahmud war
ein Waisenkind, dessen Mutter, Vater und zwei Schwestern bei einem
Gewaltausbruch zwischen Sunniten und Schiiten umgekommen waren, die Pakistan
nach der Ermordung Benazir Bhuttos heimgesucht hatten. Embling hatte den
Jungen praktisch adoptiert und gab ihm Essen, Obdach, ein bisschen Taschengeld,
und, wovon Mahmud nichts wusste, er zahlte in einen stetig wachsenden
Treuhandfonds ein, den Mahmud an seinem 18. Geburtstag ausgezahlt bekommen
würde.
Wieder
eine Moschee niedergebrannt, ein weiterer politischer Führer ermordet, noch ein
Gerücht über Wahlmanipulationen, der nächste ISI-Geheimdienstoffizier wegen
Geheimnisverrats verhaftet, noch ein Aufruf zur Ruhe aus Peshawar. Verdammte
Schande, das alles zusammen. Pakistan war natürlich nie ein Vorbild für Ruhe
und Frieden gewesen, aber es hatte doch einige halbwegs ruhige Zeiten gegeben,
obwohl auch das nur Anlass zu eitler Hoffnung gewesen war, denn unter der
dünnen Oberfläche hatte es im Kessel der Gewalt immer weiter gebrodelt. Trotz
allem wusste Embling, dass es auf der Welt keinen anderen Platz mehr für ihn
gab, obwohl er eigentlich nie verstanden hatte, warum. Vielleicht war es ja
eine Wiedergeburt, aber Pakistan hatte sich zweifellos in sein Leben
geschlichen, und jetzt, mit 68 Jahren, war er fest und unwiderruflich in seinem
angenommenen Heimatland verwurzelt.
Embling
wusste, dass die meisten Menschen in seiner Lage - und zwar wohl mit Recht -
Angst gehabt hätten: ein Christ angelsächsischer Herkunft aus Großbritannien,
dem Land des British Raj, wie
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