Clancy, Tom
man
auf Hindi sagte, der britischen Herrschaft. Über neunzig Jahre lang, von Mitte
der 1850er-Jahre bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, hatte England den von ihm
sogenannten »Indischen Subkontinent« beherrscht, zu dem während verschiedener
historischer Epochen außer Indien auch Pakistan, Bangladesch, Singapur sowie
Ober- und Niederburma gehört hatten, das heute Myanmar hieß; allerdings
sprach Embling grundsätzlich immer nur von Burma, politische Korrektheit hin
oder her. Obwohl die Erinnerung an den British Raj im Laufe der Zeit in Pakistan
verblasst war - die Auswirkungen der Kolonialzeit waren noch immer spürbar.
Embling sah und spürte das täglich, wenn er vor die Tür trat — an den Blicken
älterer Leute auf dem Markt und am Geflüster von Polizisten, die von ihren
Eltern und Großeltern Geschichten gehört hatten. Embling verbarg seine Herkunft
nicht. Das hätte er auch gar nicht gekonnt, denn sein fließendes Urdu und
Paschtunisch hatten immer noch einen ganz leichten Akzent, ganz zu schweigen
von seiner weißen Haut und seinen 1,90 Meter. Beides war eher selten bei den
Einheimischen.
Trotzdem
wurde er in der Regel respektvoll behandelt, und das hatte nichts mit
verbliebener Ehrfurcht vor dem Raj zu tun, sondern mit seiner eigenen Lebensgeschichte.
Schließlich lebte er inzwischen länger in Pakistan als viele Leute, die einem
täglich auf dem Khyber-Bazar-Markt begegneten. Wie viele Jahre eigentlich genau?, überlegte
er. Ferien oder Aufträge in den Nachbarländern abgerechnet ... Über vierzig
Jahre kamen wohl zusammen. Genug für seine ehemaligen (und manchmal auch die
jetzigen) Landsleute, um ihm schon lange das Etikett »Eingeborener geworden«
angehängt zu haben. Nicht, dass ihm das etwas ausmachte. Trotz aller seiner
Fehler und aller gefährlichen Situationen, die er hier schon überstanden hatte,
gab es für ihn keinen anderen Ort mehr als Pakistan, und insgeheim war er
stolz darauf, dass man ihn für so gut integriert hielt, dass er schon »mehr
Paki als Brite« war.
Embling
war im zarten und naiven Alter von 22 Jahren einer der vielen
Oxford-Absolventen gewesen, die sich nach dem Krieg vom MI6 hatten anwerben
lassen. Er war vom Vater eines Schulkameraden angesprochen worden, den er für
einen Angestellten im Verteidigungsministerium gehalten hatte, der aber in
Wirklichkeit Talentsucher für den MI6 war - einer der wenigen übrigens, die
vor der Anwerbung des berüchtigten Kim Philby gewarnt hatten, von dem er
voraussah, dass er entweder irgendwann versagen und Menschenleben gefährden
oder der Versuchung erliegen und überlaufen würde. Letzteres trat dann ein, und
Philby arbeitete jahrelang als Maulwurf für die Sowjets, bevor er entlarvt
wurde.
Nachdem er
die harte Ausbildung in Fort Monckton an der Küste von Hampshire überstanden
hatte, erhielt Embling die pakistanische North-West Frontier Province oder NWFP
(auch Pakhtunkhwa oder Sarhad genannt, je nachdem, mit wem man sprach) als
Operationsgebiet zugewiesen. Sie grenzte an Afghanistan, das damals gerade zur
Spielwiese des sowjetischen KGB wurde. Embling hatte fast sechs Jahre lang in
den Bergen an der Grenze gelebt und Kontakte zu den paschtunischen Warlords
geknüpft, die in diesem Niemandsland zwischen Pakistan und Afghanistan
herrschten. Falls die Sowjets ihre Fühler in Richtung Pakistan ausstrecken
sollten, so würden sie es wahrscheinlich über diese Berge und durch das Land der
Paschtunen versuchen.
Außer
gelegentlichem Heimaturlaub in Großbritannien hatte Embling seine Karriere in
den zentralasiatisehen Stan-Staaten verbracht — Turkestan, Kasachstan,
Turkmenistan, Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan —, die alle zum Herrschaftsbereich
der Sowjetunion gehört hatten. Während die amerikanische CIA und seine
Landsleute vom MI6 - offiziell inzwischen Secret Int elligence Service (SIS), aber Embling hatte der neue Namen
stets missfallen — den Kalten Krieg in den nebligen Straßen Berlins, Budapests
und Prags ausfochten, wanderte Embling mit den Paschtunen durch die Berge und
lebte von quabili pulaw dampukht (Reis mit
Möhren und Rosinen) und bitterem schwarzem Tee. 1977 hatte er ohne Wissen
seiner Vorgesetzten in London sogar in einen paschtunischen Stamm
eingeheiratet. Seine Braut war die jüngste Tochter eines kleineren Warlords; er
verlor sie schon zwei Jahre später bei einem sowjetischen Luftangriff während
der Invasion Afghanistans. Ihre Leiche war nie gefunden worden. Er fragte sich
oft, ob er deswegen
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