Clancy, Tom
lebte - wer auch immer das war - zur Flucht veranlasst, kurz bevor das
Ranger-Team eintraf? War das reiner Zufall, oder war er gewarnt worden? Sie
bezweifelte, dass es menschliches Versagen war; dazu waren die Ranger zu gut.
Sie hatte den Bericht des Teams heute sogar schon gelesen, und auch außer dem
Beinbruch des leitenden Offiziers und Driscolls eigener Verwundung war die
Operation betrüblich verlaufen: zwei Tote und zwei Verwundete. All das wegen
eines blinden Alarms.
Wenn die
Flucht wirklich kein Zufall gewesen war, dann lag es am ehesten daran, dass der
Hubschrauber gesehen worden war. Kaum ein Helikopter konnte irgendwo von einer
Basis in Pakistan oder Afghanistan abheben, ohne dass ein URC-Kämpfer oder
Sympathisant das mitbekam und jemanden anrief. Dieses Problem wurde von den
Teams der Special Forces teilweise durch kurze, sinnlose Ablenkungsflüge in den
Tagen vor dem Start zu einer echten Operation gelöst, teilweise auch durch
große Umwege bei den Flügen. Beides machte es den neugierigen Augen schwerer,
Schlüsse zu ziehen. Das raue und schwierige Gelände erschwerte diese Taktik
allerdings, genau wie das Wetter; oft waren bestimmte Routen einfach unpassierbar.
Wie schon Alexander der Große und die Sowjetarmee hatten erkennen müssen, war
in Zentralasien schon die Geografie ein Feind. Und zwar ein unbesiegbarer, dachte Mary Pat. Entweder lernte
man, damit zu leben, arbeitete mit Umwegen oder scheiterte. Sowohl Napoleon wie
Hitler hatten diese Lektion - wenn auch verspätet - während ihrer tollkühnen,
wenn auch schlecht geplanten Invasionen in Russland lernen müssen. Natürlich
hatten beide an einen schnellen Sieg geglaubt, lange bevor der Schneefall einsetzte.
Und in Russland war das Gelände schön flach. Nimmt man noch Berge dazu ... dann
hat man Zentralasien.
An der
Glastür erschien ein Kurier, tippte den Zahlencode ein und kam herein. Wortlos
legte er einen Stapel aus vier braunen Aktenmappen mit einem roten Streifen
und einer Ziehharmonika-Ordnungsmappe vor Margolin auf den Tisch und ging
wieder. Margolin verteilte die Mappen, und die nächste Viertelstunde lang lasen
alle schweigend.
Schließlich
bemerkte Mary Pat: »Ein Sandkastentisch? Merkwürdig.«
»War ja schön
gewesen, wenn sie ihn mitgebracht hätten«, meinte Turnbull.
»Sehen Sie
sich die Maße an«, wandte Cummings ein, »den hätten sie zu Fuß nie da
rausgekriegt. Nicht ohne das Team selbst in Gefahr zu bringen. War schon die
richtige Entscheidung.«
»Ja,
wahrscheinlich«, murmelte der Leiter von Acre Station missmutig. Er war
offensichtlich nicht überzeugt. Turnbull stand unter unglaublichem Druck. Offiziell
hieß es zwar, der Emir stehe nicht an der Spitze der US-Liste der
meistgesuchten Verbrecher, aber in Wirklichkeit stand er sehr wohl dort. Seine
Gefangennahme würde zwar kaum einen Umschwung im Kampf gegen den Terror
bringen, aber ihn frei herumlaufen zu lassen war doch überaus peinlich und
womöglich auch gefährlich. John Turnbull jagte den Emir seit 2003, zuerst als
Stellvertretender Leiter der Sonderkommission, inzwischen als ihr Chef.
So gut
Turnbull in seinem Job auch war, er litt wie viele der gegenwärtigen
CIA-Spitzenbeamten an dem, was Mary Pat und Ed »Operationsentfremdung« nannten.
Er hatte einfach keine Vorstellung davon, wie es bei einer
Geheimdienstoperation wirklich zuging, wenn man selbst mitten im Geschehen war,
und diese Entfremdung führte zu vielen Problemen, die gewöhnlich alle in dieselbe
Kategorie mündeten: überzogene Erwartungen. Bei der Planung einer Operation
erwartete man zu viel, entweder von den Ausführenden oder vom Missionsziel. Die
meisten Ops sind kein
unmittelbarer Erfolg, sondern Geduldsspiele, bei denen man einen Punkt nach dem
anderen sammelt, die sich schließlich zu einem großen Gewinn summieren. Eds
Autorenagent hatte ihm einmal gesagt: »Man braucht zehn Jahre, um über Nacht
Erfolg zu haben.« Das galt allgemein auch für verdeckte Operationen. Manchmal
kamen Intelligenz, Vorbereitung und Glück zur richtigen Zeit auf die richtige
Weise zusammen, aber meistens laufen alle drei gerade weit genug auseinander,
dass der richtig große Wurf nicht gelingt. Und manchmal, ermahnte sie sich selbst, während
sie den Bericht durchsah, sieht man erst
lange danach, dass man einen Haupttreffer gelandet hat.
»Haben Sie
das mit dem Koran gelesen?«, fragte Cummings die Gruppe. »Der kann unmöglich
jemandem in der Höhle gehört haben.«
Niemand
antwortete; das war nicht
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