Clancy, Tom
geholt. Sie
verfügte über wenig Hintergrundwissen in Sicherheitsfragen, abgesehen davon,
dass sie als gewöhnliches Mitglied im Geheimdienstausschuss des Repräsentantenhauses
gesessen hatte. Sie war, wie der Präsident McMullen bei ihrer Ernennung
erklärt hatte, »eine demografische Notwendigkeit«. Im Kampf um die Nominierung
bei den Demokraten hatte Kealty seiner schärfsten Rivalin Claire Raines, der
Gouverneurin von Vermont, einige üble Tiefschläge versetzt und damit einen
großen Teil seiner weiblichen Wählerschaft verloren. Nun war er gezwungen,
durch die Ernennung einer Frau wie Ann Reynolds wenigstens einen Teil des
weiblichen Wählerpotenzials zurückzugewinnen, wenn er sich Hoffnungen auf eine
zweite Amtszeit machen wollte.
Reynolds
war eine gute Rednerin und hatte einen scharfen analytischen Verstand, daran
gab es überhaupt keinen Zweifel. Aber auch nach einem Jahr in diesem Job stand
sie auf der Lernkurve noch ganz, ganz weit unten. Wie McMullen vermutete, wurde
ihr erst jetzt allmählich klar, dass zwischen der wirklichen Welt und
akademischen Lehrbüchern ein himmelweiter Unterschied bestand.
Und was ist mit dir selbst, Wes, alter Kumpel?, fragte er
sich. Ein Schwarzer, immer noch unter dreißig, Rechtsanwalt mit Yale-Abschluss
und mit grade mal einem halben Dutzend Berufsjahren in quasistaatlichen Denkfabriken
auf dem Buckel. Er hatte keinen Zweifel daran, dass die Medienexperten und
Klatschspaltenschreiber genau dasselbe über ihn sagten wie er über Reynolds:
dass die Wahl auf ihn gefallen war, habe viel mit Antidiskriminierung zu tun,
und außerdem liege die Messlatte für diesen Job viel zu hoch für ihn.
Vielleicht nicht mal so ganz falsch, dachte er. Zu hoch für ihn, aber immerhin:
Das Schwimmen in diesem Pool hatte er sehr schnell gelernt. Das Problem war
nur, je besser er die Rückenlage beherrschte, desto schmutziger schien das
Wasser zu werden. Kealty war zwar ein halbwegs anständiger Mensch, hatte aber
viel zu sehr »das Große Ganze« im Sinn - seine »Vision« für das Land und dessen
Stellung in der Welt - und war wenig an dem »Wie« der konkreten Umsetzung
seiner Politik interessiert. Und was noch schlimmer war: Kealty war derart
eifrig bemüht, den von seinem Vorgänger eingeschlagenen Kurs zu ändern, dass er
genau wie Kilborn das Pendel viel zu stark in die andere Richtung stieß.
Außenpolitisch war er zu nachgiebig im Umgang mit Feinden und zu nachsichtig
im Umgang mit Freunden, die ihren Verpflichtungen nicht nachkamen. Immerhin
kam die Wirtschaft allmählich wieder auf Touren, und die Umfragewerte des
Präsidenten wurden dadurch besser. Kealty fasste das als Pauschalbeweis dafür
auf, dass er sich im selben Himmel wie Gott aufhielt und mit der Welt insgesamt
alles in bester Ordnung war.
Und warum bleibst du dann noch?, fragte sich McMullen zum x-ten
Mal, nachdem du doch jetzt des Kaisers neue
Kleider gesehen hast? Auf diese Frage hatte er keine Antwort
parat, und genau das beunruhigte ihn.
»Okay,
Scott, was ist los in der großen weiten Welt?«, erkundigte sich Kealty und
eröffnete damit die Besprechung.
»Irak«,
begann Kilborn. »Centcom hat die Endversion eines Rückzugsplans für unsere
Gruppen vorgelegt. Fünfunddreißig Prozent während der ersten einhundertzwanzig
Tage, danach jeweils zehn Prozent alle zwei Monate, bis wir die geplante Stärke
der verbleibenden Truppen erreichen.«
Kealty
nickte nachdenklich. »Und die irakischen Sicherheitskräfte?« Die Ausbildung
und Ausrüstung der neuen irakischen Armee war in den vergangenen acht Monaten
nur schleppend vorangekommen. Das hatte zu einer Anfrage und Debatte im
Kongress geführt, ob denn die ISF jemals in der Lage sein werde, völlig
eigenständig für die Sicherheit des Landes zu sorgen. Das Problem waren weniger
die Fähigkeiten der Soldaten als vielmehr der innere Zusammenhalt der Truppen.
Die Mehrheit der ISF-Soldaten hatte die Ausbildung gut aufgenommen, aber wie
die meisten arabischen Staaten war auch der Irak kaum mehr als eine Ansammlung
von Religionsgemeinschaften, Stämmen und Clans, und das galt sowohl in
säkularer als auch in religiöser Hinsicht. Die Vorstellung einer nationalen
Einheit oder auch des irakischen Nationalismus rangierte weit abgeschlagen
nach der Stammesloyalität oder der Zugehörigkeit zu den Schiiten oder Sunniten.
Eine Weile hatte Centcom sogar mit dem Gedanken gespielt, auch die
Truppeneinheiten und Befehlsstrukturen auf solche Clan- und Familienzugehörigkeiten
oder
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