Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)

begleiten, und er wartete, bis sie ihm den Rücken zuwandte, bevor er in die Tasche griff. Er war sich wohl bewusst, dass er ihr kein Geld in die Hand drücken konnte. So unfassbar es auch sein mochte, sie schien sich für eine junge Dame zu halten, und er durfte sie nicht beleidigen, indem er sie wie eine Bettlerin behandelte. Verstohlen holte er drei goldene Sovereigns hervor. Er würde die Münzen auf den Kaminsims legen, damit Lizzie Rose sie später fände. Sein Blick wanderte über die Gegenstände auf dem Sims: ein Retikül aus grauer Seide, zwei Schnupftabakdosen, zwei glitzernde Armreife und …
    »Woher hast du die Fotografie?«
    Das Mädchen wirbelte zu ihm herum. »Ach!«
    »Wo hast du sie her?« Dr. Wintermute erkannte kaum seine eigene Stimme wieder, so leise und drohend klang sie. »Das ist mein Sohn … mein toter Sohn!«
    Das Mädchen hob stumm die Hände zu einer flehenden Geste. Der Hund, der Gefahr witterte, bellte zweimal. Dr. Wintermute trat einen Schritt vor und hielt inne. Er war ein Gentleman und ein Gentleman schlug keine Frau, unter keinen Umständen. Aber der Klang seiner Stimme war so brutal wie ein Schlag. »Du bist eine Diebin.«
    »Nein! Ich habe es nicht genommen –«
    »Du hast mich in meinem Haus bestohlen.« Dr. Wintermute atmete schwer. »Ich sehe, ich habe mich in dir getäuscht. Ich dachte, du wärst ehrlich. Vielleicht gelingt es einem Constable, die Wahrheit aus dir herauszuholen –«
    »Nein!« Das Mädchen fasste ihn am Ärmel und blickte ihn beschwörend an. »Bitte, erzählen Sie es nicht der Polizei!« Sie schien zu spüren, dass ihr Flehen ihn nicht erweichen würde, und wechselte die Taktik: »Es war Grisini. Er hat das Foto gestohlen! Es war Grisini!«
    »Wenn es Grisini war, warum hast du dann solche Angst?«, fragte Dr. Wintermute.
    Wieder kullerten ihre Tränen. »Ich habe keine Angst. Nur, bitte, Sir, sagen Sie es nicht der Polizei. Sie wissen nicht, wie es für uns ist … wie schwierig –«
    Er hörte ihr nicht zu. Er schüttelte ihre Hand ab und presste die Fotografie an seine Brust, als könnte sie ihm sonst entwischen. Polternd hastete er die Treppe hinunter. Lizzie Rose folgte ihm auf den Fersen und flehte ihn an, sie anzuhören, bettelte, er möge nicht zur Polizei gehen. Aber er war taub für ihre Beschwörungen. Er riss sich los, als sie versuchte, ihn zurückzuhalten, und knallte die Haustür hinter sich zu.

27. Kapitel

     
    Flucht
     
    P arse!«
    Parsefall blieb mitten auf der Straße stehen. Lizzie Rose stand in der schmalen Gasse zwischen zwei Läden und rief ihn. Er starrte sie finster an. Er war müde, fror und ihm taten die Füße weh. Er wollte nach Hause und nicht draußen herumstehen, um mit Lizzie Rose zu reden. »Was’n los?«
    Lizzie Rose fasste ihn am Ärmel. »Ich muss dir was sagen.«
    Sie packte den Wagengriff und zerrte das Gefährt in den schmalen Durchgang, in dem sie sich verborgen hatte. Parsefall folgte ihr. Ihm fiel auf, dass sie sehr entschlossen und auffällig adrett zurechtgemacht wirkte. Sie trug ihr neues schwarzes Kleid und hatte das Haar hochgesteckt, was sie älter aussehen ließ. Er musterte sie misstrauisch. Es sah ihr gar nicht ähnlich, ihm auf dem Heimweg entgegenzukommen, es sei denn, sie führte die Hunde spazieren, aber diesmal hatte sie ausnahmsweise gar keine Hunde dabei.
    »Was’n los? Was willst du hier?«
    »Ich habe auf dich gewartet, um dich zu warnen. Du darfst nicht nach Hause gehen.«
    Parsefalls Gesicht wurde lang. Nach der unangenehmen Begegnung mit Dr. Wintermute hatte er es nicht gewagt, seine Stammplätze aufzusuchen, und hatte das Puppentheater bis zur Brompton Road gezerrt. Das war allerdings unbekanntes Territorium für ihn und er hatte lediglich sechs Pence eingenommen. Er freute sich auf die fragwürdige Behaglichkeit von Mrs Pinchbecks Haus. Er wollte die Stiefel ausziehen und sich ein Nest aus Decken vor dem Kamin bauen. »Warum nich’?«
    »Weil wir in Schwierigkeiten sind. Dr. Wintermute … du weißt noch, wer er ist, oder? Claras Vater …«
    Parsefall schnitt eine Grimasse. »Der olle Wintermute«, sagte er bitter. »Den hab ich heute getroffen. Der Teufel soll mich holen, der hat glatt versucht, Clara von der Bühne zu reißen. Ich musste weglaufen … der hätt se mir echt abgenommen, wenn –«
    »Das ist noch nicht das Schlimmste«, unterbrach ihn Lizzie Rose. »Hör mir zu, Parse. Nachdem Dr. Wintermute dich gesehen hat, ist er zu uns nach Hause gekommen, um mir