Claraboia oder Wo das Licht einfaellt
natürlich«, sage Isaura. »Schreib nur. Es wird der Tag kommen, da wirst du selbst mir dein Tagebuch zu lesen geben.«
»Darauf kannst du lange warten«, antwortete Adriana.
Und verließ das Zimmer. Isaura machte es sich unter der Bettdecke bequemer, legte das Buch in einen geeigneten Winkel und dachte nicht mehr an ihre Schwester. Diese ging, nachdem sie das schon dunkle Zimmer passiert hatte, in dem die Mutter und die Tante schliefen, ins Badezimmer und schloss sich ein. Nur dort, vor der Neugier der Familie geschützt, fühlte sie sich sicher genug, ihre Eindrücke vom Tag aufzuschreiben. Sie hatte das Tagebuch angefangen, kurz nachdem sie ihre Stelle angetreten hatte. Inzwischen hatte sie Dutzende von Seiten geschrieben. Sie schüttelte den Füller und begann.
»Mittwoch, 19 . 3 . 52 , fünf Minuten vor Mitternacht. Tante Amélia ist heute besonders kratzbürstig. Ich kann es nicht leiden, wenn man mich darauf anspricht, dass ich so wenig verdiene. Das kränkt mich. Fast hätte ich entgegnet, dass ich mehr verdiene als sie. Aber zum Glück habe ich es mir anders überlegt. Arme Tante Amélia … Mama sagt, sie macht sich kaputt, so viel rechnet sie hin und her. Das glaube ich. Mir geht es genauso. Heute Abend haben wir die 3 . Sinfonie von Beethoven gehört. Mama sagte, die Musik sei hübsch, ich sagte, sie sei schön, und Tante Amélia stimmte mir zu. Ich habe Tante Amélia lieb. Ich habe Mama lieb. Auch Isaura. Aber sie wissen nicht, dass ich dabei nicht an die Sinfonie oder an Beethoven dachte, das heißt nicht nur daran … Ich dachte auch an … Ich dachte sogar an Beethovens Maske und wie gern ich sie gekauft hätte … Aber ich dachte auch an ›ihn‹. Ich bin heute froh. ›Er‹ hat sehr nett mit mir gesprochen. Als ›er‹ mir die Rechnungen zum Kontrollieren brachte, hat ›er‹ mich mit der rechten Hand an der Schulter berührt. Das war so schön! Ich habe innerlich am ganzen Körper gezittert und gespürt, dass ich bis zu den Ohren rot wurde. Ich musste den Kopf senken, damit es niemand sieht. Das Schlimmste kam dann. Er dachte, ich könne es nicht hören, und unterhielt sich mit Sarmento über ein blondes Mädchen. Ich habe nur deshalb nicht geweint, weil es sich nicht gut gemacht hätte und weil ich mich nicht verraten wollte. ›Er‹ hat sich ein paar Monate mit dem Mädchen vergnügt und sie dann verlassen. Mein Gott, wird mir dasselbe passieren? Zum Glück weiß er nicht, dass ich ihn mag. Womöglich würde er mich auslachen. Wenn er das täte, würde ich mich umbringen!«
Sie hielt inne und kaute auf der Füllerspitze. Erst hatte sie geschrieben, dass sie froh sei, und jetzt sprach sie davon, dass sie sich umbringen würde. Das gefiel ihr nicht. Sie dachte kurz nach und schloss mit diesem Satz:
»Es war so schön, wie er mich an der Schulter berührt hat!«
So, ja. Das war ein Schluss, wie er sein sollte, ein wenig Hoffnung, ein wenig Freude. Ihr war wichtig, in ihrem Tagebuch nicht ganz aufrichtig zu sein, wenn die Ereignisse des Tages sie bedrückt und traurig gemacht hatten. Sie las noch einmal durch, was sie geschrieben hatte, dann klappte sie das Heft zu.
Sie hatte aus dem Schlafzimmer ihr Nachthemd mitgebracht, ein weißes Nachthemd, hochgeschlossen und mit langen Ärmeln, denn die Nächte waren noch kühl. Sie zog sich rasch aus. Ihr fülliger, von der einengenden Kleidung befreiter Körper wurde noch schwerer und unförmiger. Der Büstenhalter quetschte ihr den Rücken ein. Als sie ihn auszog, blieb ein roter Streifen rund um ihren Oberkörper zurück, wie der Striemen von einem Peitschenhieb. Sie schlüpfte in das Nachthemd, beendete ihre Abendtoilette und ging zurück ins Schlafzimmer.
Isaura war von ihrem Buch gefesselt. Sie hielt ihren freien Arm über den Kopf gebeugt, sodass ihre schwärzliche Achsel und der Brustansatz zu sehen waren. Sie war so in ihre Lektüre vertieft, dass sie sich nicht rührte, als Adriana sich hinlegte.
»Es ist spät, Isaura. Mach jetzt Schluss«, murmelte Adriana.
»Ja, gleich!«, antwortete Isaura gereizt. »Ich kann nichts dafür, dass du nicht gern liest.«
Adriana zuckte die Achseln, eine für sie typische Bewegung. Sie drehte ihrer Schwester den Rücken zu, zog die Bettdecke hoch, damit ihr das Licht nicht in die Augen schien, und war kurz darauf eingeschlafen.
Isaura las weiter. Sie musste in dieser Nacht mit dem Buch fertig werden, weil die Leihfrist am nächsten Tag ablief. Es war kurz vor eins, als sie den letzten Satz
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