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Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Titel: Claraboia oder Wo das Licht einfaellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: José Saramago
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geballten Faust.
    Justinas hilfloser Blick kämpfte gegen die beängstigenden Laute in ihren Ohren. Ihr war, als würde sie zu einem tiefen, schwarzen Abgrund geschleppt, und sie wehrte sich, um nicht hineinzustürzen. Als sie fiel, lächelte Matilde ihr strahlend zu. Verzweifelt klammerte sie sich an sie und versank im Traum.
    Durch die Wände drang die Musik und stieg auf zu den Sternen, der langsame Satz der
Eroica
, der den Schmerz beklagt und die Ungerechtigkeit des menschlichen Todes.

3
    D ie letzten Takte des
Trauermarsches
schwanden dahin wie Veilchen, die in das Grab des Helden sinken. Dann eine Pause. Eine Träne, die rinnt und verrinnt. Und gleich darauf die dionysische Vitalität des Scherzo, noch schwer vom Schatten des Hades, doch schon erfüllt von Lebenslust und Siegesfreude.
    Ein Zittern lief über die gebeugten Köpfe. Der magische Lichtkranz, der von der Decke fiel, vereinte die vier Frauen in ihrer Faszination. Auf den ernsten Gesichtern lag der angespannte Ausdruck derer, die dem Zelebrieren von geheimnisvollen, undurchschaubaren Riten beiwohnen. Die Musik mit ihrer hypnotischen Kraft öffnete in den Köpfen der Frauen verborgene Türen. Sie sahen sich nicht an. Ihre Augen waren konzentriert auf die Arbeit gerichtet, an der jedoch nur ihre Hände beteiligt waren.
    Die Musik flutete ungehindert durch die Stille, und die Stille empfing sie mit ihren stummen Lippen. Die Zeit verging. Wie ein Fluss, der aus den Bergen herabkommt, die Ebene überschwemmt und sich im Meer auflöst, endete die Sinfonie in tiefer Stille.
    Adriana schaltete das Radio aus. Ein kurzes Klicken, wie von einem Riegel im Schloss. Das Mysterium hatte ein Ende.
    Tante Amélia blickte auf. Ihre Pupillen, für gewöhnlich hart, glänzten feucht. Cândida murmelte:
    »Das ist so hübsch!«
    Sie war nicht redselig, die schüchterne, zögerliche Cândida, aber ihre farblosen Lippen bebten, so wie die Lippen junger Mädchen beben, wenn sie den ersten Liebeskuss erhalten. Tante Amélia war mit der Beurteilung nicht zufrieden.
    »Hübsch? Hübsch ist jedes beliebige Liedchen. Das hier ist … es ist …«
    Sie stockte. Das Wort, das sie sagen wollte, lag ihr auf der Zunge, doch meinte sie, wenn sie es ausspräche, würde sie es entweihen. Es gibt Wörter, die sich entziehen, sich verweigern – weil sie für unsere von so vielen Wörtern erschöpften Ohren zu bedeutungsschwer sind. Amélia war nicht mehr ganz so sicher in ihrer Äußerung. Schließlich murmelte Adriana mit zittriger Stimme, als verriete sie ein Geheimnis:
    »Schön, Tante Amélia.«
    »Ja, Adriana. Das ist es wirklich.«
    Adriana blickte hinunter auf den Strumpf, den sie gerade stopfte. Eine prosaische Beschäftigung, so wie die Isauras, die ein Hemd mit Knopflöchern versah, wie die ihrer Mutter, die an einer Häkelarbeit die Maschen abzählte, und die von Tante Amélia, die sämtliche Ausgaben des Tages zusammenrechnete. Beschäftigungen von hässlichen, schlichten Frauen, Beschäftigungen eines unbedeutenden Lebens, eines Lebens ohne Perspektive. Die Musik war vorbei. Die Musik, die ihre Abende begleitete, ihnen ein täglicher Besucher war, Trost und Anregung schenkte – und nun konnten sie über Schönheit sprechen.
    »Warum wohl kommt uns das Wort ›schön‹ so schwer über die Lippen?«, fragte Isaura lächelnd.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete ihre Schwester. »Aber so ist es. Genau genommen müsste es eigentlich ein Wort wie jedes andere sein. Einfach auszusprechen, nur eine einzige Silbe … Ich verstehe es auch nicht.«
    Tante Amélia, noch bestürzt über ihre Wortlosigkeit kurz zuvor, wollte es erklären.
    »Ich verstehe das. Es ist wie das Wort Gott für die, die an ihn glauben. Ein heiliges Wort.«
    Ja. Tante Amélia sagte immer das Richtige. Aber das unterband eine Diskussion. Es war alles gesagt. Das Schweigen, die Stille ohne Musik, dämpfte die Stimmung. Cândida fragte:
    »Gibt es nichts mehr?«
    »Nein. Das restliche Programm ist uninteressant«, antwortete Isaura.
    Adriana träumte, der Strumpf lag in ihrem Schoß. Sie dachte an Beethovens Totenmaske, die sie vor vielen Jahren im Schaufenster eines Musikgeschäfts gesehen hatte. Noch immer hatte sie das breite, kraftvolle Gesicht vor Augen, das trotz der Ausdruckslosigkeit des Gipses das Genie erkennen ließ. Einen ganzen Tag hatte sie geweint, weil sie nicht das Geld besaß, sich die Maske zu kaufen. Das war, kurz bevor sie den Vater verlor. Sein Tod, die Verschlechterung ihrer

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