Claraboia oder Wo das Licht einfaellt
Wege. Sie bewegte sich entlang tiefer Täler, aus denen dumpfe Stimmen nach ihr riefen. Schwebte hoch in den Lüften auf dem mächtigen Rücken eines Vogels mit breiten Schwingen, der erst bis über die Wolken aufstieg, wo ihr Atem nur noch keuchend ging, und sich dann wie ein Stein hinab zu den von dichtem Nebel bedeckten Tälern fallen ließ, wo sie sehr helle Gestalten erahnte, so lilienweiß, als wären sie nackt oder lediglich in durchsichtige Schleier gehüllt. Eine Begierde ohne Objekt, der Wille, zu begehren, und die Furcht davor, es zu wollen, peinigten sie.
Ihre Schwester neben ihr schlief friedlich. Angesichts ihrer ruhigen Atemzüge, ihrer Reglosigkeit geriet sie außer sich. Zweimal stand sie auf und ging ans Fenster. Einzelne Wörter, unvollständige Sätze, angedeutete Gestik, all das drehte sich ihr im Kopf. Wie eine zerkratzte Schallplatte, die in einer Endlosschleife immer dasselbe Musikstück wiederholt, wodurch die eigentlich schöne Melodie verhunzt wird. Zehnmal, hundertmal folgen dieselben Noten aufeinander, vermischen sich, gehen ineinander über, bis ein einziger Ton übrig bleibt, ein eindringlicher, schrecklicher, unerbittlicher Ton. Sie spürt, dass schon eine einzige Minute dieser Obsession zum Wahnsinn führt, aber die Minute vergeht, die Obsession setzt sich fort, und der Wahnsinn kommt nicht. Stattdessen steigert sich die geistige Klarheit, wird immer schärfer. Der Geist erfasst Horizonte, bewegt sich hierhin und dorthin, es gibt keine Grenzen, die ihn aufhalten könnten, und mit jedem Schritt vorwärts wird die geistige Klarheit bedrückender. Sich von ihr lösen, den Ton abbrechen, ihn unter der Stille ersticken, das wäre Ruhe und Schlaf. Doch die Worte, die Sätze, die Gestik durchdringen die Stille und drehen sich lautlos und endlos im Kreis.
Isaura sagte sich, sie sei verrückt. Der Kopf brannte ihr, die Stirn glühte, das Gehirn wollte sich ausdehnen und den Schädel sprengen. Es war die Schlaflosigkeit, die sie in diesen Zustand versetzte. Und die Schlaflosigkeit würde sie nicht loslassen, solange diese Gedanken sie nicht losließen. Und welche Gedanken, Isaura! Welch ungeheuerliche Gedanken! Welch widerliche Verirrungen! Welch rasende Gefühle drängen unter der Oberfläche gegen die Barrieren des Willens!
Welche Teufelshand, welche gemeine Hand hatte sie nach diesem Buch greifen lassen? Und dann die Behauptung, es sei im Dienste der Moral geschrieben! Doch, doch – bestätigte der kühle Verstand, fast untergegangen im Strudel der Gefühle. Warum dann dieser Aufruhr der Triebe, die Fesseln sprengen und den Leib überwältigen? Warum hatte sie es nicht kühl und leidenschaftslos gelesen? Schwäche – sagte ihr Verstand. Begierde – riefen die unterdrückten, Jahr um Jahr abgewehrten, als Schande verdrängten Triebe. Doch nun hatten die Triebe die Oberhand, der Wille versank in einem Schlund, der schwärzer war als die Nacht und tiefer als der Tod.
Isaura biss sich in die Handgelenke. Ihr Gesicht war schweißbedeckt, die Haare klebten ihr an der Stirn, der Mund war in einem schrecklichen Krampf verzogen. Sie setzte sich im Bett auf, raufte sich wie von Sinnen die Haare und sah sich um. Dunkelheit und Stille. Der Klang der zerkratzten Platte kehrte aus dem Abgrund der Stille zurück. Erschöpft sank sie auf die Matratze. Adriana bewegte sich und schlief weiter. Ihre Gleichgültigkeit war wie eine Anklage. Isaura zog sich trotz der erstickenden Hitze das Laken über den Kopf. Deckte sich die Augen mit den Händen zu, als wäre die Nacht nicht dunkel genug, um ihre Scham zu verbergen. Doch in ihren Augen blitzten rote und gelbe Funken auf, wie züngelnde Flammen in einem Feuer. (Wenn doch nur der Morgen plötzlich anbrechen würde, wenn doch das Licht der Sonne das Wunder vollbringen würde, die andere Seite der Welt zu verlassen und in ihr Zimmer zu scheinen …)
Langsam bewegten sich Isauras Hände zu ihrer Schwester hin. Ihre Fingerspitzen spürten Adrianas Wärme schon aus einem Zentimeter Entfernung. Minutenlang verharrten sie so, bewegten sich nicht vor und nicht zurück. Der Schweiß auf Isauras Stirn war getrocknet. Ihr Gesicht glühte, als loderte in ihr ein Feuer. Die Finger bewegten sich, bis sie Adrianas nackten Arm berührten. Als hätten sie einen heftigen Schlag bekommen, zuckten sie zurück. Isauras Herz klopfte dumpf. Ihre weit geöffneten Augen sahen nichts außer tiefer Dunkelheit. Die Hände bewegten sich weiter vor. Hielten wieder inne. Bewegten
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