Clarissa Alaska-Saga 04 - Allein durch die Wildnis
hinunter. Durch den Ausgang für Dienstboten huschte sie ins Freie und lief Thomas Whittler in die Arme, der seinen Kutscher bereits fortgeschickt hatte und sie mit einem finsteren Blick bedachte.
»Wie ich sehe, haben Sie den Artikel schon gelesen«, sagte er. »Vielleicht haben Sie sich zu früh gefreut. Ich komme gerade von der Polizei. Ich konnte dem Captain klarmachen, dass ich nichts mit den Verbrechen zu tun habe und Sie aus freien Stücken nach Vancouver gekommen sind, um mich zu erpressen. Wenn ich Ihnen zehntausend Dollar zahle, würden Sie für meinen Sohn aussagen. Mein Anwalt und meine Frau werden dies bestätigen. Sie sehen, das Blatt hat sich gewendet. Vielleicht kann ich meinen Sohn nicht mehr retten, aber Sie werden für Ihren Verrat bezahlen. Ich werde dafür sorgen, dass Sie einige Jahre hinter Gitter wandern.« Er konnte schon wieder grinsen. »Gegen mich kommen Sie nicht an, Ma’am! Ich werde Sie vernichten! Sie werden ins Gefängnis wandern, und Ihr Baby …« Sein Grinsen wurde diabolisch. »… das kommt ins Waisenhaus!«
Der Gedanke, man könnte ihr das Baby wegnehmen, war ihr unerträglich und ließ sie erstarren. Vor Entsetzen konnte sie kaum atmen. Thomas Whittler hatte recht. Die Reichen hatten immer recht, wenn es hart auf hart ging. Das viele Geld würde ihn vor einer Verurteilung schützen und ihm dabei helfen, sich an ihr zu rächen. Eben noch im Vorteil, saß sie plötzlich wieder in der Klemme, ohne die geringste Chance, sich in ihrem Zustand gegen ihn zur Wehr zu setzen.
Sie versuchte es dennoch. Auch weil ihr keine Wahl blieb, schleuderte sie ihm ihre Reisetasche ins Gesicht, so plötzlich und unerwartet, dass ihm keine Möglichkeit zur Gegenwehr blieb, und er fluchend gegen die Hauswand stolperte, mit dem Kopf dagegen stieß und langsam zu Boden sank. Aus dem Haupteingang kam seine Frau gerannt und schlug schreiend die Hände über dem Kopf zusammen: »Polizei! Polizei! Sie hat meinen Mann erschlagen!«
Clarissa zögerte keine Sekunde. Noch bevor Louise Whittler mit fuchtelnden Armen auf die Straße rannte und so laut nach der Polizei schrie, als wäre ihr Mann gerade ermordet worden, rannte sie davon, über die Kiesauffahrt auf die Broughton Street, im Schutz der blühenden Alleebäume nach Nordosten und die nächste Querstraße nach rechts, der belebten Innenstadt entgegen.
30
Clarissa glaubte sich in einem schlechten Traum. Vor einigen Jahren war sie schon mal aus diesem Haus geflohen, nachdem sie sich erbittert gegen Frank Whittler gewehrt hatte, und jetzt rannte sie wieder davon, nur dass sie sich diesmal gegen Thomas Whittler behauptet hatte. Eine seltsame Laune des Schicksals ließ sie den Albtraum zweimal erleben, zwang sie am helllichten Tag zur Flucht, wenn die Chance, entdeckt zu werden, am größten war.
Selbst zwei Häuserblocks weiter hörte sie noch die Schreie der aufgebrachten Louise Whittler, so aufgewühlt und verzweifelt, dass sie schon Angst hatte, ihren Mann ernsthaft verletzt zu haben, obwohl er nicht mal das Bewusstsein verloren hatte, als er zu Boden gesackt war. Sie beschleunigte ihre Schritte, ungeachtet der Leute, die überall an den Fenstern auftauchten und ihr neugierig nachstarrten. Das West End war ein vornehmes Viertel, das die meisten Menschen in Zweispännern oder eleganten Kutschen durchquerten und in dem die wenigen Fußgänger gemütlich flanierten. Schon der Anblick einer Frau ohne Begleitung war ungewöhnlich und der einer Frau wie sie, die wenig damenhaft über die Straße rannte, geradezu schockierend.
Clarissa zwang sich zur Ruhe und verlangsamte ihre Schritte. Sie trug keine Handschuhe und hatte weder eine Handtasche noch einen Schirm dabei, auch das ungewöhnlich, nicht nur in einem vornehmen Stadtteil wie dem West End. Ihre Haare hatten sich während der überstürzten Flucht gelöst und hingen ihr teilweise bis auf die Schultern herab. Ihr Mantel flatterte um ihre Beine. Sie sah, dass sich zwei Knöpfe gelöst hatten, schloss sie erneut und wäre beinahe gegen einen der Bäume gerannt, die auch diese Straße begrenzten.
Als ihr ein älteres Ehepaar entgegenkam, beide gediegen gekleidet und unter einem großen Regenschirm, weil es inzwischen zu nieseln begonnen hatte, fiel es ihr schwer, ihre Nervosität zu verbergen. Mit ihren gelösten Haaren und dem vom schnellen Laufen geröteten Gesicht, ohne Regenschirm und Handschuhe und, was noch viel schlimmer war, ohne Begleitung, musste sie ihnen verdächtig erscheinen. Sie
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