Clarissa Alaska-Saga 04 - Allein durch die Wildnis
die Tür.
»Da ist sie! Haltet sie!«, hörte sie Whittler rufen.
Sie landete in einer Seitengasse, rannte sie ein paar Schritte entlang und stieg über einen niedergedrückten Zaun in den Hinterhof eines mehrstöckigen Fabrikgebäudes. Sie versteckte sich hinter herumstehenden Abfalltonnen und war gerade abgetaucht, als Whittler ebenfalls in die Gasse gestürmt kam, dicht gefolgt von dem Wachmann, der nervös in seine Pfeife blies und »Polizei! Polizei!« rief.
Beide glaubten nicht, dass sie schon nach wenigen Schritten in Deckung ging, und rannten, ohne in den Hinterhof zu blicken, an ihr vorbei. Ihre Schritte hallten von den hohen Hauswänden wider. »Weit kann sie noch nicht sein«, war Whittlers Stimme zu hören. »Verdammt, Sie müssten sich doch in dieser Gegend auskennen! Wo kann Sie sich versteckt haben?« Die Antwort des Wachmanns hörte sie nicht, wohl aber den lauten Fluch von Whittler.
Clarissa betrat durch den Hinterhof das Fabrikgebäude, schlich durch einen langen Flur und verließ es durch den Vordereingang. Verzweifelt suchte sie nach einem besseren Versteck. Beim Anblick des großen Bahnhofs fiel ihr der Grundriss ein, der monatelang im Arbeitszimmer von Thomas Whittler über seinem Schreibtisch gehangen hatte, als sie als Haushälterin bei ihm angestellt gewesen war. Sie hatte sich damals gewundert, wie viele Räume es in dem Bahnhof außer der Schalterhalle und den Wartesälen gab. Zahlreiche Büros, aber auch Abstellräume und Rumpelkammern in einem der Anbauten.
Ohne weiter zu überlegen, überquerte sie die Straße und betrat den Bahnhof. In der Schalterhalle herrschte reger Betrieb. Sie nahm den linken Verbindungsgang in einen der Anbauten, erreichte eine Treppe und stieg hinauf. Die Abstellräume waren vor allem in den oberen Stockwerken zu finden, erinnerte sie sich. Thomas Whittler hatte damals den Fehler begangen, ihr den Grundriss des Bahnhofs genau zu erklären. Die Angestellten, die ihr entgegenkamen, beachteten sie kaum. Im obersten Stockwerk lief sie einen verlassenen Gang hinunter und blickte in einige der abgelegenen Zimmer.
In einem der Räume waren mehrere Möbel abgestellt, zwei Schränke, drei Kommoden, ein aufgeplatztes Sofa und mehrere Stühle. Ein idealeres Versteck gab es nicht. Sie nahm ein paar Decken von dem Stapel, der auf dem Sofa lag und bereitete sich ein Lager hinter den Schränken. Trotz der Decken etwas hart, aber sicherer als das Sofa, auf dem man sie sofort entdecken würde, falls jemand den Raum betrat. Von trüben Gedanken beseelt, setzte sie sich.
Ihre Situation schien aussichtslos. Sie wurde von Thomas Whittler, seinen Handlangern und der Polizei gesucht und würde ihnen irgendwann ins Netz gehen, falls es ihr nicht gelang, die Stadt zu verlassen. Doch sie besaß keinen Penny mehr und hatte keine Ahnung, wie sie an Bord des Schiffes nach Alaska kommen sollte. Was sollte sie tun? Mit einem Güterzug die Stadt verlassen und sich irgendwo als Hilfskraft verdingen, bis sie das Geld für das Ticket zusammenhatte? Einen Monat würde sie mindestens dafür arbeiten müssen. Aber wer stellte schon eine schwangere Frau ein? Sie blickte an sich herunter und berührte ihren leicht gewölbten Bauch. Mit einem geschickt geschnittenen Kleid ließ sich das Bäuchlein vielleicht verstecken, aber woher sollte sie das Kleid bekommen? Von einem Lumpensammler? Von der Mission? Ob sich die Kirche ihrer annahm, wenn sie einem Pfarrer ihre Geschichte erzählte, oder würde man sie als Lügnerin brandmarken und ihr das Kind nach der Geburt wegnehmen? »Keine Angst, mein Kleines«, entschuldigte sie sich bei ihrem ungeborenen Baby, »wir schaffen das … Irgendwie schaffen wir es.«
Sie schlief bereits am späten Nachmittag ein und träumte wirres Zeug, das sie gleich nach dem Aufwachen schon wieder vergessen hatte. Es war längst dunkel, als sie aus dem Schlaf schreckte und plötzlich von unbändigem Hunger geplagt wurde. Allein bei dem Gedanken an einen deftigen Eintopf lief ihr das Wasser im Mund zusammen, aber auch die gute Schweizer Schokolade, die Alex bei Barnette in seinem Handelsposten gekauft hatte, wäre ihr recht gewesen. Als Nachtisch eine Tafel … vielleicht auch zwei oder drei. Sie hatte noch nie so großen Hunger gehabt. Seit dem frühen Morgen hatte sie nichts mehr gegessen. Wenn sie wenigstens etwas frisches Wasser gehabt hätte.
Dennoch waren ihre Gedanken bei Alex, als sie krampfhaft versuchte, wieder einzuschlafen. Sie versprach ihm, so schnell wie
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