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Clarissa - Wo der Himmel brennt

Clarissa - Wo der Himmel brennt

Titel: Clarissa - Wo der Himmel brennt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Ross
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Streichhölzer, das Trockenfleisch, den Verband und die Lederschnüre, die Wundsalbe. Ein solches Vorgehen kam einem Mordversuch gleich, und so würden auch die meisten Richter entscheiden. Warum hatte Tommy das bloß getan? Weil sie eine Weiße war? Weil die Weißen den Indianern das Land genommen hatten, und er der Meinung war, sich nur das genommen zu haben, was ihm zustand? Weil er beim Anblick der zahlreichen Goldsucher, die zu den Goldfeldern strömten, neidisch geworden war und selbst ein reicher Mann werden wollte? Weil er plötzlich weiß sein wollte? Oder hatte er ihr nur nicht in die Augen blicken wollen, wenn er sie bestahl?
    Sie blieb gegen den Baum gelehnt stehen und versuchte sich über ihre Lage klar zu werden. Dem Indianer konnte sie nicht folgen. Er hatte einen Vorsprung von mindestens drei Stunden und würde sie wahrscheinlich erschießen, falls sie ihm wider Erwarten zu nahe kam. Auf den Trail konnte sie nicht zurück, weil der Fremde in der Büffelfelljacke dort zuerst suchen würde und sie außerdem Gefahr lief, von den Mounties erwischt zu werden. Für sie konnte es nur darum gehen, am Leben zu bleiben, abseits der bekannten Pfade, um unentdeckt über die kanadische Grenze zu kommen und dem Kopfgeldjäger und den Mounties aus dem Weg zu gehen. Ein beinahe unmögliches Unterfangen, das selbst im gesunden Zustand kaum zu meistern war.
    Nach einigen tiefen Atemzügen, mit denen sie sich Mut machen wollte, wandte sie sich vom Feuer ab. Wenn sie abseits des White Pass Trails über die Grenze kommen wollte, musste sie sich nach Norden wenden. Über die weite Senke und durch den Wald auf der anderen Seite und den baumlosen Hang hinauf, der zu der Passhöhe führte. Und dort blieb ihr die Wahl, sich durch den Tiefschnee an der Grenzstation vorbeizuschleichen, möglichst bei Nacht, um erst am Yukon River wieder auf Menschen zu stoßen. Am Ufer des zugefrorenen Flusses lagerten Hunderte Goldgräber, sogar Familien mit Kindern, wie sie gehört hatte, und sie würde dort sicher irgendwo unterkommen. Dort würde sie auf Alex warten oder im Frühjahr nach Dawson weiterziehen.
    Wie unrealistisch ihre Chancen waren, diese Mammutaufgabe zu bewältigen, wusste sie natürlich selbst, aber es gab keine andere Möglichkeit, wenn sie eine Chance auf eine neue Zukunft haben wollte. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als die Herausforderung anzunehmen. Wenn sie nicht im Schnee erfrieren wollte, musste sie es wenigstens versuchen, auch ohne Hundeschlitten und Schneeschuhe, aber zumindest in der passenden Kleidung.
    Ohne länger zu zögern, machte sie sich auf den Weg. Sie stürzte schon nach wenigen Schritten, weil sie sich zu schnell bewegt hatte, rappelte sich sofort wieder auf und ging weiter, einen leisen Fluch auf den Lippen. Unbändige Wut auf den Indianer, aber auch auf den Kopfgeldjäger, der ihr den Rückweg nach Skaguay versperrte, wo sie wenigstens einigermaßen sicher gewesen wäre, hatte den Schmerz verdrängt und ließ sie finster entschlossen das Unmögliche versuchen. Mit ausgestreckten Armen tastete sie sich wie eine Blinde in dem treibenden Schnee vorwärts, immer darauf bedacht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, weil es sie übermäßige Kraft kostete, wieder aufzustehen.
    Trotz des eisigen Windes war das Schneetreiben noch zu ertragen. Sie hatte keine Schwierigkeit, den Waldrand auf der anderen Seite im Auge zu behalten, auch wenn er in dem nebligen Dunst nur als schwarze Wand zu erkennen war. Die kahlen Hänge und die Gletscher, die sich dahinter auftürmten, konnte sie nur erahnen. So eine Herausforderung bewältigte sie nur in kleinen Schritten, und indem sie sich immer neue Ziele setzte. Der Hügelkamm oberhalb der Schneewehen, die abgebrochenen Äste, die zwanzig Schritte weiter im Schnee lagen. Unglücklicherweise war der Schnee an den meisten Stellen so tief, dass sie bei jedem Schritt tief einsackte und ihre ganze Kraft brauchte, um ihr Bein herauszuziehen, so wie vor einigen Wochen, als sie und Dolly versucht hatten, den vereisten Hang zu erklimmen.
    Nur weil sie weite Umwege in Kauf nahm, um möglichst auf den weniger verschneiten Hügelkämmen gehen zu können, kam sie einigermaßen vorwärts. Mit der Beharrlichkeit einer Frau, die schon mit dem geheimnisvollen Verschwinden ihres Mannes auf eine harte Probe gestellt wurde und sich seit mehr als einem halben Jahr weigerte, an seinen Tod zu glauben, kämpfte sie sich vorwärts, den Kopf gegen den treibenden Schnee gesenkt.

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