Clarissa - Wo der Himmel brennt
er sie nicht finden konnte, nützte sie die Gelegenheit und rannte auf die andere Straßenseite. Durch eine schmale Seitenstraße erreichte sie die Rückseite der Häuser. Die Schneewehen, die der Wind im Schatten der Hauswände angehäuft hatte, zwangen sie zu einigen Umwegen und erhöhten die Gefahr, dass sich ihre Gestalt gegen die verschneiten Hügel im Norden abzeichnete, doch auf dieser Seite vermutete sie niemand, und sie schaffte es ungesehen bis zum Haus der Joscelyns. Statt wüsten Beschimpfungen und Flüchen drang diesmal nur ihr lautes Schnarchen nach draußen.
Von der Hauptstraße meldete sich Whittler: »Clarissa Carmack, ich fordere dich zum letzten Mal auf, dich zu stellen! So machst du alles nur noch schlimmer! Ich habe einen Haftbefehl der Polizei in Vancouver dabei und das Recht, dich in Gewahrsam zu nehmen. Komm endlich aus deinem Versteck, oder ich muss andere Saiten aufziehen! Komm raus, verdammtes Miststück!«
Die Entschiedenheit, vor allem aber die Lautstärke, mit der er zu dieser späten Stunde auf der Hauptstraße herumbrüllte, zeigten Clarissa, wie entschlossen er war, sie diesmal festzunehmen und zu bestrafen. Sein Rachedurst war ungestillt und machte ihn unberechenbar. Ein Grund mehr, möglichst schnell ein besseres Versteck zu finden. Sie blickte sich verzweifelt um. Vielleicht im Hafen, in einem der Fischerboote. Dort würde man sie am wenigsten vermuten. Wenn es einem befreundeten Fischer gehörte, nahm er sie am frühen Morgen vielleicht mit aufs Meer. Nur eine vage Hoffnung, aber der einzige Strohhalm, an den sie sich in diesem Augenblick klammern konnte.
Sie ging ein paar Schritte und blieb sofort stehen, als im Haus des Constables eine Lampe aufflammte und wenig später die Tür aufging. »Was soll das Geschrei? Wissen Sie, wie spät es ist, Mister?« Sie spähte vorsichtig an dem Haus, hinter dem sie sich versteckt hatte, vorbei auf die Hauptstraße und sah den Constable vor der Tür stehen. Er hatte seinen Wintermantel über die Unterwäsche gezogen und hielt ihn mit beiden Händen zusammen. »Wenn Sie weiter so herumschreien, sperre ich Sie ein. Haben Sie mich verstanden?«
Frank Whittler trat in ihr Blickfeld und baute sich in seiner arroganten Art vor dem Constable auf. Auf der anderen Straßenseite war der Indianer zu sehen. »Ich nehme an, Sie sind der Constable in diesem gottverlassenen Nest.«
»Ganz recht, Mister. Und wenn Sie nicht sofort Ruhe geben …«
»Sir«, schnitt ihm Whittler das Wort ab. »Und bitte Sir … nicht Mister. Ich lege höchsten Wert auf eine respektvolle Anrede. Mein Name ist Frank Whittler. Ich bin Manager der Canadian Pacific in Vancouver und arbeite eng mit der dortigen Polizei zusammen. Ich bin hier, um eine gewisse Clarissa Carmack, ehemals Howe, zu verhaften. Sie hat sich des schweren Diebstahls und der versuchten Körperverletzung schuldig gemacht. Ich weiß aus sicherer Quelle, dass sie sich in dieser Stadt aufhält. Sie hält sich irgendwo versteckt.«
»Clarissa Carmack? Eine Diebin? Versuchte Körperverletzung?« Der Constable konnte es nicht glauben. »Das kann nicht stimmen, Mister … Sir. Sie müssen sich irren. Mrs Carmack ist eine von allen Einwohnern respektierte Frau. Sie hat sich nie etwas zuschulden kommen lassen. Sie können jeden in dieser Stadt fragen. Clarissa Carmack ist über jeden Tadel erhaben.«
»Tut mir leid, wenn ich Sie enttäuschen muss, Constable, aber ich weiß es leider besser, denn ich bin selbst der Betroffene. Clarissa Carmack hat mir fünfhundert Dollar gestohlen und zweimal auf mich geschossen, als ich ihr auf die Schliche kam, dafür habe ich zwei verlässliche Zeugen. Sie kann von Glück sagen, dass sie nicht getroffen hat. Ich habe einen Haftbefehl dabei.«
Der Constable war verwirrt. »Und warum sollte sie so etwas getan haben, Sir? Clarissa Carmack hat hier alles, was sie braucht. Sie ist glücklich verheiratet, und aus Geld haben sie und ihr Mann sich meines Wissens noch nie viel gemacht. Warum sollte sie nach Vancouver fahren und Ihnen dort fünfhundert Dollar stehlen? Und warum sollte sie auf einen Mann wie Sie schießen?«
»Sie ist besessen von der Idee, mir Schaden zuzufügen, Constable. Dafür würde sie quer durchs Land fahren, wenn es sein muss. Sie gehört zu den Frauen, die es nicht vertragen können, wenn man sie zurückweist. Vielleicht hatte sie es auch auf unser Geld abgesehen und war neidisch, weil sie selbst in ärmlichen Verhältnissen lebte. Ihr Motiv ist mir, ehrlich
Weitere Kostenlose Bücher