Clarissa
Joss ins Lager zurückging. Er verbrachte immer mehr Zeit mit Rosamund.
Clarissa versuchte, soweit ihr das möglich war, den Vorfall vor dem Zelt aus ihrem Bewußtsein zu verdrängen. Sie mochte nicht glauben, daß die Leute die Vorwürfe ernst nahmen, die Blanche gegen sie erhob.
Zwei Tage gingen hin, in denen sich offenbar nichts ereignete, und dann wurde wieder ein Diebstahl gemeldet, und die Leute betrachteten abermals Clarissa mit Argwohn. Blanche, dachte Clarissa. Die Frau war in den letzten Tagen bestimmt nicht untätig gewesen.
Als sie am Feuer saß und das Ragout aus Kaninchenfleisch in sich hineinlöffelte, stieß jemand gegen ihren Rücken, daß sie sich mit der heißen Brühe die Hand verbrannte. Es sah wie ein unglücklicher Zufall aus; doch sie war sich nicht sicher. Ein andermal hörte sie, wie zwei Männer laut über Leute sprachen, die sich einbildeten, etwas Besseres zu sein.
Am vierten Tag, als sie über das Übungsgelände ging, traf sie ein Schwert wie zufällig am Arm. Niemand schien die Hand am Schwert gehabt zu haben, als Raine den Schuldigen suchte, und als sie alle eine Stunde länger üben mußten, fing Clarissa wütende Blicke ein.
Im Zelt verband Raine schweigend ihre Wunde.
»Sag etwas! « verlangte sie.
»Mir gefällt das nicht. Ich kann nicht zusehen, wie du verletzt wirst. Bleib fortan immer in meiner Nähe. Geh mir nie aus den Augen. «
Sie nickte nur. Vielleicht hatte sie diese Leute zu feindselig behandelt. Vielleicht verdienten sie es, von ihr beachtet zu werden. Sie wußte eigentlich nicht viel über Menschen, nur über Musik. In Moreton war sie populär gewesen, weil sie den Leuten ihre Musik geschenkt hatte; aber mehr als das hatten sie offenbar nicht von ihr gewollt. Sie wußte, daß Blanche die Leute gegen sie aufhetzte; aber wenn sie in den letzten Monaten freundlich zu den Lagerbewohnern gewesen wäre, hätte Blanche sich nicht so leicht damit getan.
Zwei Tage lang blieb sie dicht an Raines Seite. Die Verbannten hatten nun jemand, auf den sie ihren Haß richten konnten, und sie zeigten ihre Gefühle bei jeder Gelegenheit.
Es war am Abend des zweiten Tages, als Clarissa nur ein paar Ellen von Raines entfernt war und ein Mann sich plötzlich auf sie stürzte und sie zu durchsuchen begann. Ehe Clarissa schreien konnte, stieß der Mann einen Jubelruf aus und hielt ein Messer in die Höhe, das Clarissa noch nie zuvor gesehen hatte.
»Der Junge hat es genommen«, rief der Mann. »Hier haben wir den Beweis! «
Sofort war Raine an Clarissas Seite und zog sie hinter sich. »Was soll das bedeuten? « forschte er.
Die Männer grinsten, während sie einen Ring um ihn bildeten. »Euer hochnäsiger kleiner Junge kann das nicht abstreiten«, sagte der Mann, der sie durchsucht hatte, und hielt Raine das Messer hin. »Ich fand es in seiner Tasche. Ich hatte ihn schon seit einiger Zeit in Verdacht; doch nun sind wir uns sicher. « Er schob sein Gesicht ganz nahe an Clarissa heran, daß sie seinen üblen Atem riechen konnte. »Nun wirst du nicht mehr die Nase über uns rümpfen. «
In Sekunden klaubte er sich wieder vom Boden auf, wohin ein Tritt von Raine ihn befördert hatte. »Geht wieder an die Arbeit! « donnerte Raine.
Doch die Menge vor dem Zelt, die immer noch Zulauf bekam, zerstreute sich nicht. »Er ist ein Dieb«, rief jemand halsstarrig. »Schlagt ihn. «
»Zieht ihm das Fleisch von dem Rücken, und dann wollen wir sehen, wie stolz er ist. «
Clarissa versteckte sich mit geweiteten Augen hinter Raines Rücken.
»Der Junge ist kein Dieb«, gab Raine bissig zurück.
»Ihr Edelmänner redet doch immer von gerechter Behandlung«, rief jemand in der hintersten Reihe. »Dieser Junge bestiehlt uns, und Ihr wollt ihn nicht bestrafen. «
Raine zog sein Schwert und richtete es auf die Menge. »Geht jetzt! Der Junge ist kein Dieb. Wer von euch will als erster wegen einer Lüge sein Leben verlieren? «
»Wir werden den Jungen bestrafen«, schrie jemand, ehe die Menge sich aufzulösen begann.
Kapitel 11
Es dauerte lange, ehe Clarissa sich aus dem Schatten von Raines mächtigem Körper zu lösen vermochte. Ihre Knie zitterten, und sie klammerte sich an seinen Arm.
»Ich habe das Messer nicht gestohlen«, stammelte sie leise.
»Natürlich nicht«, schnappte Raine, doch sie konnte ihm ansehen, daß er damit den Vorfall nicht als erledigt betrachtete.
»Was wird jetzt geschehen? «
»Sie werden sich bemühen, zu erreichen, was sie wollen. «
»Und was ist das?
Weitere Kostenlose Bücher