Clarissa
schwarzen Samtgewand auf seinem Bett.
»Was ist das denn? « fragte Gavin und bückte sich nach etwas, das zwischen Raines schmutzigen Sachen lag. Er hielt einen goldenen Gürtel in die Höhe.
»Das ist Clarissas Löwengürtel, wie sie ihn nennt; aber ich vermochte bis jetzt nichts darauf zu entdecken, was einem Löwen ähnlich sähe. Einer von den Wächtern bei ihrem Prozeß nahm ihr den Gürtel ab, und es hat mich eine verfluchte Anstrengung gekostet, ihn zurückzuerobern. «
Mit einem Stirnrunzeln trug Gavin den Gürtel zum Fenster und betrachtete ihn im Sonnenlicht. »Er sieht sehr alt aus. Ist er das? «
»Vermutlich. Clarissa sagt, der Gürtel wäre schon so lange von der Mutter auf die Tochter übergegangen wie das Gedächtnis in ihrer Familie zurückreicht. «
»Löwen«, murmelte Gavin. »Irgend etwas an diesem Gürtel kommt mir bekannt vor. Würdest du mich nach unten in den Wintersalon begleiten? «
Als Raine angezogen war, folgte er seinem Bruder in den getäfelten Raum. An einer Wand hing ein alter, stark verblaßter Teppich. Er hatte dort schon seit Menschengedenken gehangen und war Raine so vertraut, daß er für ihn fast unsichtbar geworden war.
»Hat dir Vater einmal die Geschichte dieses Wandteppichs erzählt? « fragte Gavin. Als Raine den Kopf schüttelte, fuhr Gavin fort: »Er ist in der Regierungszeit von Eduard dem Ersten gewebt worden und verherrlichte den größten Ritter jenes Jahrhunderts, einen Mann, der als der Schwarze Löwe in die Geschichte einging. Schau her, hier sitzt er auf seinem Pferd, und diese schöne Dame war seine Frau. Betrachte ihre Taille. «
Raine schaute auf den Wandteppich, etwas gelangweilt von Gavins Zitat aus der Familiengeschichte, vermochte aber nichts Besonderes zu erkennen. Er war ein Mann, der immer mit der Gegenwart befaßt war, mit dem Heute, und nicht mit vergangenen Jahrhunderten.
Gavin warf seinem Bruder einen entrüsteten Blick zu. »Vor langer Zeit sah ich eine Zeichnung von diesem Gürtel —«, er deutete auf den Wandteppich. »Der Name der Frau, die mit dem Schwarzen verbunden wurde, hatte also mit einem Löwen zu tun, und deshalb gab der Schwarze Löwe seiner Frau einen Gürtel mit einem Löwen und seiner Löwin als Hochzeitsgeschenk. «
»Du glaubst doch nicht, Clarissas Gürtel könnte dieses Hochzeitsgeschenk gewesen sein? Da müßte er ja ein paar Jahrhunderte alt sein. «
»Schau dir an, wie sehr er abgenützt ist«, sagte Gavin und hielt Clarissas Gürtel hoch. »Die Glieder sind mit einem eisernen Draht verbunden und das Muster darauf fast verschwunden; doch soweit ich sehen kann, könnten die Schnallen daran Löwen darstellen. «
»Wie wäre Clarissa zu diesem Gürtel gekommen? «
Gavin mußte nicht erst über den Familienursprung seiner neuen Schwägerin belehrt werden. »Der Schwarze Löwe war ein sagenhaft reicher Mann; aber er hatte einen Sohn und acht Töchter. Er gab allen seinen Töchtern eine gewaltige Mitgift, und seine älteste Tochter bekam den Löwengürtel, den sie ihrer ältesten Tochter weitervermachen sollte. «
»Du denkst doch nicht, daß Clarissa… «, begann Raine.
»Der älteste Sohn des Schwarzen Löwen bekam den Namen Montgomery, und von ihm stammt unsere ganze Familie ab. Erinnerst du dich nicht, wie Vater zu dir sagte, du wärst wie der Schwarze Löwe? Wir vier waren groß, schlank und blond, während du immer schon untersetzt warst, breiter und kräftiger. «
Raine entsann sich nun der vielen Neckereien, die er als Kind über sich ergehen lassen mußte, und manchmal hatte er sich gefragt, ob er nur ein Halbbruder seiner Schwester und seiner drei Brüder sei. Aber er war erst zwölf gewesen, als sein Vater starb, und dieser hatte so vieles gesagt, an das er sich nicht mehr erinnern konnte.
»Vater sagte, du seist dem Schwarzen Ritter ähnlich. « Gavin deutete auf den Wandteppich, auf dem ein massiger, schwarzhaariger Mann auf dem Rücken eines sich aufbäumenden Hengstes saß.
»Und du glaubst, dieser Gürtel, den Clarissa erbte, könnte der Frau dieses Mannes gehört haben? « Raine nahm seinem Bruder den Gürtel ab. »Sie hütet ihn wie einen Schatz, läßt ihn nie aus den Augen. Ich wußte, daß man ihr den Gürtel bei ihrem Prozeß abnehmen würde. Sie hat es mir nicht erzählt; aber in der vergangenen Nacht muß sie davon geträumt haben, denn sie rief im Schlaf nach diesem bißchen Gold. «
»Weißt du, daß der Schwarze Ritter eine Frau heiratete, die tief unter seinem Stand war? Nicht ganz
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