Clark Mary Higgins
ihm Spaß gemacht, ihr einen Stoß zu geben und
die Handtasche zu packen, aber er ließ den Gedanken gleich
wieder fallen, eilte an ihr vorbei, bog in die 72. Straße ein und
strebte der U-Bahn-Station zu.
Wenige Minuten danach tauchte er wieder auf; Gesicht und
Hände waren sauber, das Haar zurückgekämmt, die Jeansjacke
bis zum Hals geschlossen. Die Einkaufstasche, in der sich Mantel, Mütze, Waschlappen und Handtuch befanden, hatte er zu
einem festen Bündel gerollt.
Um halb elf brachte er Kaffee zu Neeve ins Büro.
»Tag, Denny«, sagte sie, als er hereinkam. »Ich hab heute
morgen verschlafen, und jetzt komme ich einfach nicht in
Schwung. Mir ist es egal, was die anderen hier sagen, aber Ihr
Kaffee ist unvergleichlich viel besser als das Zeug, das sie mit
ihrer Maschine zusammenbrauen.«
»Kann doch jedem passieren, daß er mal die Zeit verschläft,
Miss Kearney«, sagte Denny. Er zog den Plastikbecher aus seiner Tüte und stellte ihn ihr beflissen hin.
Als Neeve an diesem Morgen aufwachte, hatte sie zu ihrem
Schrecken festgestellt, daß es bereits Viertel vor neun war. Mein
Gott, dachte sie, als sie die Bettdecke zurückschlug und aufsprang, das kommt davon, wenn man die halbe Nacht mit den
drei Kumpanen aus der Bronx aufbleibt. Sie zog ihren Morgenrock über und eilte in die Küche. Der Kaffee wartete schon in
der Kanne, Myles hatte bereits Orangensaft eingegossen und
Brotscheiben und den Toaster bereitgestellt. »Du hättest mich
wecken sollen, Chef!« sagte sie vorwurfsvoll.
»Es schadet der Modebranche sicher nicht, wenn sie mal eine
halbe Stunde auf dich warten muß.« Er war vertieft in die Daily
News.
Neeve beugte sich über seine Schulter. »Irgendwas Aufregendes?«
»Ein Bericht auf der ersten Seite über Leben und Taten des
Nicky Sepetti. Er wird morgen beerdigt, mit einem Leichenzug,
der ihm nach dem Trauergottesdienst das Geleit von der SanktCamilla-Kirche bis zum Calvary-Friedhof gibt.«
»Hattest du erwartet, daß er sang- und klanglos beigesetzt
würde?«
»Nein. Ich hatte gehofft, daß er eingeäschert würde und ich
das Vergnügen hätte, den Sarg in den Ofen zu stoßen.«
»Bitte, Myles, hör auf.« Neeve versuchte das Thema zu wechseln. »Es war schön gestern abend, nicht?«
»Ja. Ich bin neugierig, wie es Sals Hand geht. Ich wette, daß
er letzte Nacht nicht mit seiner neusten Verlobten schlafen
konnte. Hast du gehört, wie er erzählte, daß er schon wieder an
Heirat denkt?«
Neeve trank ihren Orangensaft mit einer Vitaminkapsel. »Im
Ernst? Wer ist denn die Glückliche?«
»Ich bin nicht überzeugt, daß ›glücklich‹ das richtige Wort
ist«, bemerkte Myles. »Er hat ja schon alle Variationen gehabt.
Heiratete erst, als er beruflich den Durchbruch geschafft hatte,
und durchlief dann eine ganze Skala vom Wäschemannequin
über eine Ballerina zu einer Dame der Gesellschaft und zu einer
Gesundheitsfanatikerin. Zieht von Westchester nach New Jersey, dann nach Connecticut und nach Sneden’s Landing und läßt
jede von ihnen in einer Luxusvilla zurück. Gott weiß, was ihn
das im Laufe der Jahre gekostet haben mag.«
»Meinst du, daß er je seßhaft wird?« fragte Neeve.
»Wer weiß? Er kann soviel Geld verdienen, wie er will, im
Grunde bleibt Sal Esposito immer der unsichere Junge, der sich
bestätigen muß.«
Neeve tat eine Brotscheibe in den Toaster. »Was habe ich
sonst noch verpaßt, während ich am häuslichen Herd hantierte?«
»Dev ist in den Vatikan gerufen worden. Aber das bleibt unter
uns. Er hat es mir beim Weggehen anvertraut, als Sal pinkeln
ging – entschuldige, deine Mutter hat mir verboten, so zu reden.
Also, als Sal sich die Hände waschen ging.«
»Ich hörte, daß er etwas von Baltimore sagte. Geht es um das
dortige Erzbistum?«
»Er glaubt, daß es dazu kommt.«
»Das würde einen roten Hut für ihn bedeuten.«
»Möglicherweise.«
»Ich muß schon sagen, ihr Jungens aus der Bronx habt’s zu
was gebracht. Es muß wohl an der Luft dort liegen.«
Der Toast sprang heraus. Neeve strich sich Butter und reichlich Marmelade darauf und biß hinein. Auch wenn es offensichtlich ein trüber Tag bleiben würde, machte die Küche mit den
hell gebeizten Eichenschränken und dem blauweißgrün gemusterten Fliesenboden doch einen fröhlichen Eindruck. Hellgrüne
rechteckige Leinensets mit dazu passenden Servietten lagen auf
der schmalen, rohen Holzplatte des Tischs. Die Tassen, Untertassen und Teller und der Milchkrug stammten noch aus
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