Clark Mary Higgins
Gelegenheit zu antworten. Sie ging
hinüber zu der Wand, wo Ethels Fotos hingen, und betrachtete
sie eingehend. »Da gibt sie vor, sich für alle möglichen, nicht
näher bezeichneten guten Zwecke einzusetzen, und nimmt
ringsum ihre verdammten Auszeichnungen entgegen, und dabei
treibt sie den einzigen Menschen, der je versucht hat, sie als
Frau und menschliches Wesen zu behandeln, ins Grab.« Ruth
wandte sich um und sah Doug ins Gesicht. »Für mich ist sie
verachtenswert. Ich weiß auch, was sie von Ihnen denkt. Sie
lassen sich in teure Restaurants zum Essen ausführen, für das
mein Mann und ich und unsere Kinder die Rechnung zahlen.
Doch damit nicht genug, bestehlen Sie die Frau auch noch. Ethel
hat meinem Mann von Ihnen erzählt. Ich kann nur sagen, Sie
sind auch nicht besser als sie.«
Damit war sie verschwunden. Mit blutleeren Lippen sank
Doug aufs Sofa. Wem hatte Ethel, das Großmaul, wohl sonst
noch erzählt, daß er sich seinen Teil an ihrer Alimentenbeute zu
nehmen pflegte?
Als Ruth auf den Gehsteig hinaustrat, sprach eine Frau sie an,
die auf der Eingangstreppe des Hauses stand. Sie schien Anfang
vierzig zu sein. Ihr blondes Haar war, wie Ruth bemerkte, künstlich zerzaust, ihr Pullover und die engen Hosen entsprachen der
neuesten Mode. Das Gesicht drückte unverhohlene Neugier aus.
»Tut mir leid, Sie zu belästigen«, sagte die Frau. »Ich bin
Georgette Wells, Ethels Nachbarin, und ich mache mir Sorgen
um sie.«
Ein magerer Teenager stieß die Haustür auf, polterte die Stufen hinunter und stellte sich neben Mrs. Wells. Ihre wachen Augen musterten Ruth und stellten fest, daß sie vor Ethels Wohnung stand. »Sind Sie eine Freundin von Miss Lambston?« fragte sie.
Ruth war sicher, daß dies das Mädchen sein mußte, das sich
über Seamus lustig gemacht hatte. Zu einer tiefen Abneigung
kam plötzlich ein kalter Schrecken, der ihr den Magen zusammenkrampfte. Warum machte diese Frau sich Sorgen um Ethel?
Sie dachte an die mörderische Wut in Seamus’ Gesicht, als er
ihr erzählte, wie Ethel ihm die Hundertdollarnote in die Tasche
gesteckt hatte. Sie dachte an die aufgeräumte Wohnung, die sie
gerade verlassen hatte. Wie oft hatte Seamus in all den vergangenen Jahren behauptet, Ethel brauche ein Zimmer nur zu betreten und schon sehe es darin aus, als ob eine Bombe explodiert
sei. Ethel konnte kürzlich nicht mehr zu Hause gewesen sein.
»Ja«, antwortete Ruth und versuchte, einen freundlichen Ton
zu finden. »Ich wundere mich, daß Ethel nicht da ist. Aber gibt
es einen Grund zur Sorge?«
»Dana, geh jetzt zur Schule«, befahl die Mutter des Mädchens. »Du wirst wieder zu spät kommen.«
Dana schmollte. »Ich will aber zuhören.«
»Also gut«, sagte Mrs. Wells ungeduldig und wandte sich erneut an Ruth. »Irgend etwas Merkwürdiges geht da vor. Letzte
Woche hatte Ethel Besuch von ihrem Ex-Mann. Gewöhnlich
kommt er am Fünften des Monats, wenn er die Alimente nicht
vorher per Post geschickt hat. Als ich ihn am letzten Donnerstag
herumschleichen sah, fand ich das schon etwas seltsam. Es war
doch erst der Dreißigste. Wieso sollte er sie verfrüht bezahlen?
Was soll ich Ihnen sagen? Die beiden haben einen entsetzlichen
Krach gehabt. Ich konnte hören, wie sie sich anschrien, als wäre
ich im selben Zimmer.«
Es gelang Ruth, mit beherrschter Stimme zu fragen: »Was haben sie denn gesagt?«
»Na ja, ich meine, ich konnte sie schreien hören. Ich konnte
aber nicht verstehen, was sie sagten. Ich wollte gerade runtergehen für den Fall, daß Ethel in Schwierigkeiten war…«
Nein, dachte Ruth, du wolltest besser hören.
»…da ging mein Telefon, und meine Mutter rief aus Cleveland an wegen der Scheidung meiner Schwester, und es dauerte
eine Stunde, ehe sie mal Luft holte. Da war aber der Krach unten schon vorbei. Ich rief bei Ethel an. Sie kann wirklich komisch sein, wenn sie von ihrem Ex erzählt. Zum Totlachen, wie
sie ihn nachmacht! Aber sie nahm das Telefon nicht ab, darum
dachte ich, sie sei ausgegangen. Sie wissen ja, wie Ethel ist;
ständig rast sie irgendwohin. Gewöhnlich sagt sie mir Bescheid,
wenn sie länger als zwei Tage wegbleibt, aber sie hat mir nichts
gesagt. Jetzt ist ihr Neffe in der Wohnung, und das ist auch nicht
ganz koscher.«
Georgette Wells kreuzte die Arme. »Ziemlich kalt, nicht war?
Verrücktes Wetter. Kommt vom vielen Haarspray im Ozon,
nehme ich an. Jedenfalls«, fuhr sie fort, während Ruth sie anstarrte und Dana jedes Wort begierig einsog,
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