Clark Mary Higgins
Knien, erzählte er, wie er Ethel angefleht hatte, ihn von seiner
Verpflichtung zu befreien, wie sie ihr Spiel mit ihm getrieben
hatte. »Vielleicht tu ich’s, vielleicht auch nicht«, hatte sie gesagt. Dann hatte sie hinter den Kissen auf dem Sofa herumgesucht. »Mal sehen, ob noch Geld zum Vorschein kommt, das
mein Neffe zu stehlen vergessen hat.« Lachend hatte sie ihm die
gefundene Hundertdollarnote in die Tasche gesteckt mit der
Bemerkung, sie habe im verflossenen Monat nicht viel Zeit gehabt, zum Essen auszugehen.
»Ich hab ihr einen Kinnhaken versetzt«, berichtete Seamus
mit tonloser Stimme. »Ich hätte nie gedacht, daß ich so etwas
tun könnte. Ihr Kopf sank zur Seite. Sie fiel rückwärts hin. Ich
wußte nicht, ob ich sie getötet hatte. Sie stand wieder auf und
hatte Angst. Ich würde sie umbringen, sagte ich zu ihr, wenn sie
noch einen einzigen Cent von mir verlangte. Sie wußte, daß es
mir ernst war. ›Also gut‹, sagte sie, ›keine Alimente mehr.‹«
Seamus stürzte den Rest des Kaffees hinunter. Sie saßen in
dem kleinen Wohnzimmer. Der Tag war von Anfang an kalt und
grau gewesen, und jetzt schien bereits der frühe Abend hereinzubrechen. Grau und kalt. Genauso wie am letzten Donnerstag
in Ethels Wohnung. Anderntags war der Schneesturm losgebrochen. Ein neuer Sturm war im Anzug. Da war er sicher.
»Und dann bist du weggegangen?« drängte Ruth.
Seamus zögerte. »Dann bin ich weggegangen.«
Irgend etwas schien noch nicht fertig zu sein. Ruth sah sich
im Zimmer um, sah die schweren Eichenmöbel, die sie seit
zwanzig Jahren haßte, den abgetretenen Maschinenteppich, mit
dem sie hatte leben müssen. Und sie wußte, daß Seamus ihr
nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. Sie blickte auf ihre Hände. Zu klein. Breit. Kurze Finger. Alle drei Töchter hatten lange,
schlanke Finger. Wessen Erbteil? Seamus’? Wahrscheinlich.
Ruths Familienbilder zeigten kleine, gedrungene Menschen.
Aber sie waren stark. Und Seamus war schwach. Ein schwacher,
verängstigter Mann, den die Verzweiflung gepackt hatte. In
welchem Ausmaß? »Du hast mir nicht alles gesagt«, fing sie
wieder an. »Ich will es wissen. Ich muß es wissen. Es ist die
einzige Möglichkeit, damit ich dir helfen kann.«
Mit in den Händen vergrabenem Gesicht erzählte er ihr den
Rest. »Oh, Gott«, schluchzte Ruth. »Oh, mein Gott!«
Um ein Uhr mittags kam Denny erneut in Neeves Geschäft und
brachte in einem Karton zwei Thunfisch-Sandwiches und Kaffee. Auch diesmal gab man ihm ein Zeichen, daß er direkt in
Neeves Büro gehen sollte. Neeve sprach gerade auf ihre Assistentin ein, die gutaussehende Schwarze. Er gab keiner von beiden Gelegenheit, ihn wieder hinauszuschicken. »Wollen Sie hier
drinnen essen?« fragte er.
»Denny, Sie verwöhnen uns«, sagte Neeve. »Das sieht ja
schon nach Zimmerservice wie im Hotel aus.«
Denny erstarrte, da er seinen Fehler erkannte. Er trat zu sehr in Erscheinung. Aber er wollte hören, ob sie irgendwelche Pläne hatte.
Gleichsam als Antwort auf seine unausgesprochene Frage
sagte Neeve zu Eugenia: »Nächsten Montag werde ich erst am
späteren Nachmittag in die Seventh Avenue gehen können. Mrs.
Poth kommt um halb zwei her und möchte, daß ich ihr bei der
Auswahl einiger Kleider helfe.«
»Damit können wir dann die Miete fürs nächste Vierteljahr
bezahlen«, bemerkte Eugenia vergnügt.
Denny faltete die Servietten zusammen. Montag am späten
Nachmittag. Gut zu wissen. Er blickte um sich. Ein kleines Büro. Kein Fenster. Schade. Wäre in der Außenwand ein Fenster
gewesen, hätte er direkt von hinten auf sie schießen können.
Aber Charley hatte ihm eingeschärft, es dürfe nicht nach einem
gezielten Anschlag aussehen. Sein Blick blieb auf Neeve haften.
Sie sah wirklich prima aus. Eine Klassefrau! Wenn man an all
die Scheusale dachte, die sonst herumliefen, war es ein Jammer,
daß ausgerechnet diese hier dran glauben mußte. Er murmelte
ein »Wiedersehn!« und ging hinaus. Ihr Dank klang ihm noch in
den Ohren. An der Kasse bezahlte man ihn, und der Betrag wurde wie gewöhnlich großzügig aufgerundet. Aber auch mit zwei
Dollar pro Lieferung dauert es sehr, sehr lange, bis zwanzigtausend zusammenkommen, dachte Denny, als er die schwere Glastür aufstieß und auf die Straße hinaustrat.
Während sie von ihrem Sandwich abbiß, wählte Neeve Toni
Mendells Nummer in der Redaktion von Contemporary Woman. Als Toni hörte, was Neeve von ihr wollte, rief sie: »Mein
Gott,
Weitere Kostenlose Bücher