Clark Mary Higgins
Kirche fortgesetzt. Myles dämpfte den Ton und ging zum Telefon, wobei er
nach wie vor den Bildschirm im Auge behielt. Herb war in seinem Büro.
»Hast du die News und die Post gelesen?« fragte Herb. »Die
spielen den Mord an Ethel Lambston wirklich hoch.«
»Ich hab’s gesehen.«
»Unsere Ermittlungen konzentrieren sich immer noch auf den
Ex-Mann. Mal sehen, was bei der Haussuchung zum Vorschein
kommt. Die Auseinandersetzung, die die Nachbarin am letzten
Donnerstag mit anhörte, könnte damit geendet haben, daß er sie
erdolchte. Andererseits kann er ihr so viel Angst eingejagt haben,
daß sie sich entschloß, die Stadt zu verlassen, und daß er ihr gefolgt
ist. Myles, von dir habe ich gelernt, daß jeder Mörder eine Visitenkarte hinterläßt. Die werden wir auch in diesem Fall finden.«
Sie machten ab, daß Neeve die Beamten der Mordkommission
vom 20. Polizeirevier am Sonntag nachmittag in Ethels Wohnung treffen sollte. »Ruf mich an, wenn ihr in Rockland County
irgend etwas erfahrt, das von Interesse sein könnte«, bat Herb.
»Der Bürgermeister möchte verkünden, daß der Fall gelöst ist.«
»Sonst noch was?« bemerkte Myles lakonisch. »Ich sag dir
Bescheid.«
Er stellte den Ton des Fernsehers wieder auf normale Lautstärke und sah zu, wie der Priester die sterblichen Überreste von
Nicky Sepetti segnete. Dann wurde der Sarg aus der Kirche getragen, während der Chor »Fürchte dich nicht« sang. Myles hörte auf die Worte. »Fürchte dich nicht, denn ich werde immer bei
dir sein.« Du bist bei mir gewesen, Tag und Nacht, siebzehn
Jahre lang, du Hund! dachte er. Vielleicht werde ich, wenn du
unter der Erde bist, endlich von dir befreit sein.
Nickys Witwe erschien auf der Kirchentreppe. Sie wandte
sich plötzlich um und ging auf den nächsten Fernsehkommentator zu. Während ihr Gesicht auf dem Bildschirm erschien, ein
müdes, resigniertes Gesicht, begann sie zu sprechen. »Ich möchte eine Erklärung abgeben. Eine Menge Leute waren nicht einverstanden mit den Geschäften meines Mannes – möge seine
Seele in Frieden ruhen. Für diese Geschäfte wurde er ins Gefängnis geschickt. Man hat ihn aber viele weitere Jahre im Gefängnis behalten wegen eines Verbrechens, das er nicht begangen hatte. Auf dem Totenbett hat Nicky mir geschworen, daß er
nichts zu tun hatte mit der Ermordung von Commissioner Kearneys Ehefrau. Denken Sie von ihm, was Sie wollen, aber halten
Sie ihn nicht für den Verantwortlichen an jenem Tod.«
Ein Hagel von Fragen, die unbeantwortet blieben, folgte ihr,
als sie zu ihren Kindern zurückging und sich neben sie stellte.
Myles schaltete den Fernseher aus. Ein Lügner bis an sein Ende,
dachte er. Doch während er sich eine Krawatte umband und mit
geschickten, raschen Bewegungen knotete, merkte er, daß der
Keim des Zweifels in seinem Kopf gelegt worden war.
Nachdem er erfahren hatte, daß Ethel Lambstons Leiche gefunden worden war, stürzte Gordon Steuber sich in fieberhafte Aktivität. Er ordnete die Räumung seines letzten illegalen Ateliers in
Long Island City an und ließ die Schwarzarbeiter vor den Folgen
warnen, wenn sie der Polizei etwas sagten. Dann telefonierte er
mit Korea, um eine erwartete Lieferung aus einer seiner dortigen
Fabriken abzubestellen. Als er erfuhr, daß die Ware bereits auf
dem Flugplatz verladen wurde, warf er mit einer wütenden Geste
das Telefon an die Wand. Dann zwang er sich zu vernünftigen
Überlegungen und versuchte, das Ausmaß des Schadens abzuschätzen. Welche Beweise hatte Ethel Lambston wirklich gehabt,
und wieviel war nur Bluff gewesen? Wie konnte er sich, wenn der
Artikel erschien, am besten aus der Affäre ziehen?
Obwohl es Samstag war, saß May Evans, seine langjährige
Sekretärin, im Büro, um einige Akten aufzuarbeiten. May war
mit einem Trinker verheiratet und hatte einen halbwüchsigen
Jungen, der laufend in Schwierigkeiten geriet. Mindestens ein
halbes Dutzend Mal hatte Steuber Schadenersatz bezahlt und ihn
vor einer Anzeige bewahrt. Auf Mays Verschwiegenheit konnte
er zählen. Er bat sie in sein Büro.
Steuber hatte sich wieder beruhigt und betrachtete May eingehend, ihre trockene, bereits ganz faltige Haut, die ängstlichen,
niedergeschlagenen Augen, ihr hastiges, geflissentliches Gebaren. »May«, begann er. »Sie haben vermutlich von Ethel Lambstons tragischem Tod gehört.«
May nickte.
»May, ist Ethel vor ungefähr zehn Tagen an einem Abend
hiergewesen?«
May blickte ihn unsicher an. »An einem
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