Clark Mary Higgins
rasend. Die Alimente trieben Sie in den Bankrott. Manchmal kann der Druck zu groß für uns
werden, dann explodieren wir. War das bei Ihnen der Fall?«
War er rasend geworden? Er spürte erneut den Haß jenes Augenblicks, erinnerte sich, wie ihm die Galle übergelaufen war, er
die Fäuste geballt und sie gegen den spöttischen, bösartigen
Mund erhoben hatte.
Seamus legte den Kopf auf den Tisch und brach in Weinen
aus. Die Schluchzer schüttelten ihn. »Ich bitte um einen Anwalt«, stammelte er.
Zwei Stunden später erschien Robert Lane, der etwa fünfzigjährige Rechtsanwalt, mit dem Ruth sich panikartig in Verbindung hatte setzen können. »Sehen Sie vor, formell Klage gegen
meinen Klienten zu erheben?« fragte er.
Inspektor O’Brien sah ihn mit saurer Miene an. »Nein. Vorläufig noch nicht.«
»Dann steht es Mr. Lambston frei zu gehen?«
O’Brien seufzte. »Jawohl.«
Seamus war sicher gewesen, daß er verhaftet würde. Er wagte
kaum, an das, was er gerade gehört hatte, zu glauben. Er stützte
die Hände auf den Tisch und erhob sich schwerfällig von seinem
Stuhl. Er spürte, wie Robert Lane seinen Arm ergriff und ihn aus
dem Zimmer führte. Dann hörte er Lane sagen: »Ich möchte
eine Kopie der Aussagen meines Klienten haben.«
»Die kriegen Sie.« Inspektor Gomez wartete, bis die Tür sich
geschlossen hatte, ehe er sich seinem Kollegen zuwandte. »Den
Kerl hätte ich am liebsten einsperren lassen.«
O’Brien lächelte, ein schmallippiges, freudloses Lächeln.
»Geduld. Wir müssen die Resultate der Laboruntersuchung abwarten. Und wir sollten noch feststellen, wo Lambston sich am
Donnerstag und Freitag aufgehalten hat. Im übrigen können wir
Gift drauf nehmen, daß das Geschworenengericht sein Urteil
gefällt haben wird, ehe Seamus Lambston sich über die Beendigung der Alimentenzahlung freuen kann.«
Als Neeve, Myles und Jack in die Wohnung zurückkamen, war
eine Nachricht auf dem Telefonbeantworter. Ob Myles bitte
Commissioner Schwartz im Büro anrufen würde.
Herb Schwartz wohnte in Forest Hills, wo »traditionsgemäß
neunzig Prozent aller Polizeichefs zu wohnen pflegen«, wie Myles Jack erklärte, während er zum Hörer griff. »Wenn Herb sich
an einem Samstagabend nicht in seinem Haus zu schaffen
macht, muß irgend etwas Wichtiges passiert sein.«
Das Gespräch war nur kurz. Als Myles wieder aufhängte, sagte er: »Sieht so aus, als wäre schon alles vorbei. Sie hatten kaum
begonnen, den Ex-Mann zu verhören, da weinte er schon wie
ein kleines Kind und verlangte einen Rechtsanwalt. Es ist nur
noch eine Frage der Zeit, bis sie genügend Indizien haben, um
Anklage zu erheben.«
»Demnach hat er also noch nicht gestanden, nicht wahr?«
bemerkte Neeve. Sie war dabei, überall die Stehlampen anzumachen, die das Zimmer in ein sanftes, warmes Licht tauchten.
Licht und Wärme. War es das, wonach der Geist verlangte,
nachdem er der harten Wirklichkeit des Todes gegenübergestanden hatte? Sie wurde das Gefühl nicht los, daß irgend etwas sie bedrohte. Seit sie Ethels Kleider auf dem Tisch ausgebreitet gesehen hatte, ging ihr das Wort Leichentuch im Kopf
herum. Jetzt war ihr klargeworden, daß sie dauernd daran denken mußte, was sie selber wohl trüge, wenn sie starb. Vorahnung? Irischer Aberglaube? Das Gefühl, daß jemand über ihr
Grab ging?
Jack Campbell beobachtete sie. Er weiß Bescheid, dachte sie.
Er spürt, daß noch etwas anderes im Spiel ist als nur die Kleider.
Myles hatte darauf hingewiesen, daß die Bluse, die Ethel sonst
zu dem Kostüm trug, gerade in der Reinigung sein könnte. Dann
hätte sie automatisch diejenige angezogen, die zu dem Ensemble
gehörte.
Alle Argumente, die Myles anführte, klangen logisch. Er
stand vor ihr, hatte ihr die Hände auf die Schultern gelegt.
»Neeve, du hast kein Wort von dem gehört, was ich gerade gesagt habe. Du hast mir eine Frage gestellt, und ich habe sie beantwortet. Was ist los mit dir?«
»Ich weiß es nicht.« Sie versuchte zu lächeln. »Schau, es war
ein scheußlicher Nachmittag. Ich glaube, wir sollten einen Drink
nehmen.«
Myles sah sie forschend an. »Ich glaube, wir sollten einen starken Drink nehmen, und dann sollten Jack und ich mit dir
essen gehen.« Er blickte zu Jack. »Aber vielleicht haben Sie
schon etwas anderes vor?«
»Ich habe nichts anderes vor, außer, wenn ich darf, uns jetzt
die Drinks zu mixen.«
Der Whisky, wie schon der Tee bei Kitty Conway, bewirkte,
daß Neeve wenigstens für eine
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