Clark Mary Higgins
Weile das Gefühl loswurde, in
einen unheilvollen Strudel gerissen zu werden. Myles wiederholte, was Herb Schwartz ihm gesagt hatte: Die Inspektoren der
Mordkommission waren der Ansicht, daß Seamus Lambston
drauf und dran war, ein Geständnis abzulegen.
»Ist es dann noch nötig, daß ich morgen Ethels Kleiderschrank durchsehe?« Neeve war nicht ganz sicher, ob sie von
dieser Aufgabe lieber entbunden worden wäre.
»Ja. Ich glaube zwar nicht, daß es von großer Bedeutung ist,
ob Ethel vorhatte zu verreisen und ihre Sachen selber packte,
oder ob er sie tötete und dann versuchte, es so aussehen zu lassen, als sei sie von sich aus weggefahren. Aber wir dürfen bei
der Untersuchung nichts auslassen.«
»Hätte er denn nicht weiterhin auf unbestimmte Zeit Alimente
zahlen müssen, wenn man annahm, Ethel sei verreist? Sie hat
mir einmal erzählt, daß ihr Buchhalter Anweisung habe, Seamus
anzurufen und mit einer Klage zu drohen, falls der Scheck nicht
rechtzeitig käme. Wäre Ethels Leiche nicht gefunden worden,
hätte er sieben Jahre lang weiterbezahlen müssen, ehe man sie
rechtlich für tot erklären konnte.«
Myles zuckte die Achseln. »Neeve, der Prozentsatz an Tötungsdelikten, die auf tätliche Auseinandersetzungen zwischen
Eheleuten zurückgehen, ist erschreckend. Und halte die Menschen nur nicht für allzu intelligent. Sie handeln impulsiv. Die
Sicherung brennt durch. Und dann versuchen sie, die Spuren zu
verwischen. Du weißt, was ich immer und immer wieder gesagt
habe: Jeder Mörder hinterläßt seine Visitenkarte.«
»Wenn das zutrifft, wüßte ich gerne, welche Visitenkarte
Ethels Mörder hinterlassen hat.«
»Das will ich dir sagen. Ich glaube, daß es der blaue Fleck an
Ethels Kiefer ist. Du hast den Autopsiebericht nicht gesehen.
Aber ich. Als Junge war Seamus Lambston ein ausgezeichneter
Amateurboxer. Der Schlag hat Ethels Kiefer beinahe gebrochen.
Mit oder ohne Geständnis bezieht mein Verdacht sich auf jemand, der Erfahrung im Boxen hat.«
»Die Legende hat gesprochen. Und du liegst völlig falsch.«
Jack Campbell saß auf dem Ledersofa und trank einen Chivas Regal. Schon zum zweitenmal hielt er sich heute lieber aus
der Diskussion zwischen Neeve und ihrem Vater heraus. Ihnen
zuzuhören, war beinahe so, als verfolge man ein Tennismatch
zwischen zwei gleichwertigen Gegnern. Fast hätte er gelächelt,
doch dann wurde er wieder von Besorgnis gepackt, als er Neeve beobachtete. Sie war noch immer sehr blaß, und das tiefschwarze Haar, das ihr Gesicht umrahmte, betonte den seidigen
Glanz ihres Teints. Er hatte die bernsteinfarbenen Augen schon
vor Freude leuchten sehen, doch an diesem Abend fiel ihm die
Traurigkeit darin auf, die nicht nur Ethel Lambstons Tod betraf. Was immer diesen Tod herbeigeführt haben mochte, war
noch nicht vorbei, dachte Jack. Und es hat etwas mit Neeve zu
tun.
Unwirsch schüttelte er den Kopf. Seine schottischen Vorfahren, die ebenfalls die Gabe des Zweiten Gesichts hatten, regten
sich in ihm. Der Grund, warum er Neeve und ihren Vater zum
Bezirksanwalt von Rockland County begleitet hatte, war einfach
der gewesen, daß er den Tag mit Neeve verbringen wollte. Als
er sie am Morgen verlassen hatte, war er nach Hause gegangen,
hatte geduscht, sich umgezogen und sich dann in die Stadtbibliothek begeben. Dort hatte er auf Mikrofilm den siebzehn Jahre alten Zeitungsartikel mit der Schlagzeile EHEFRAU DES
POLIZEICHEFS IM CENTRAL PARK ERMORDET! gelesen.
Er hatte jede Einzelheit in sich aufgenommen und hatte sich
eingehend die Bilder des Trauerzugs vor der St.-PatrickKathedrale betrachtet.
Die zehnjährige Neeve in einem dunklen Mantel und mit einem kleinen Hut, die mit Tränen in den Augen an Myles’ Hand
ging. Myles’ Gesicht, wie aus Granit gemeißelt. Die unübersehbaren Reihen von Polizisten, die sich die ganze Fifth Avenue
hinunterzuziehen schienen. Die Zeitungskommentare, die den
bereits verurteilten Mafiaboß Nicky Sepetti mit der Hinrichtung
der Frau des Polizeichefs in Verbindung brachten.
Nicky Sepetti war heute vormittag beerdigt worden. Das mußte sowohl bei Neeve als auch bei ihrem Vater die Erinnerung an
Renata Kearneys Tod wieder schmerzlich wachgerufen haben.
Die alten Zeitungen waren voll gewesen von Spekulationen, ob
Nicky Sepetti von seiner Gefängniszelle aus angeordnet hatte,
daß auch Neeve getötet würde. Heute früh hatte Neeve Jack erzählt, wie sehr ihr Vater die Entlassung Sepettis gefürchtet hatte.
Nun schien Nickys Tod
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