Claustria (German Edition)
mehr, den Arm zu heben.
,,Du hilfst mir jetzt, eine Tür in den Keller zu tragen.“
,,Eine Tür?“
Anneliese ging die Treppe hinunter, in der Hand einen kleinen Koffer der Austrian Airlines , den Fritzl von einer Reise allein nach Málaga mitgebracht hatte. Am Abend zuvor hatte sie einen Pullover, drei Unterhosen, einen Büstenhalter und drei Scheiben Pastete im Teigmantel, eingewickelt in Alufolie, gepackt. Anneliese ging als Späherin voraus, doch nun am Spätvormittag waren alle Mieter in der Arbeit.
Im Erdgeschoss klatschte sie in die Hände. Fritzl kam mit Angelika auf dem Arm, sie regte sich noch.
,,Wo sind wir?“
Sie wiederholte die Frage mit geschlossenen Augen.
Anneliese trug Angelika die Kellertreppe hinunter. Fritzl hatte die Tür zwischen dem Heizungskeller und seinem unterirdischen Büro neu gestrichen. Er hatte Anneliese die Tochter übergeben, damit er die Tür aus dem Garten holen konnte, wo sie zum Trocknen lag.
Unten an der Treppe legte Anneliese den reglosen Körper ab. Fritzl lehnte die Tür an die Wand.
,,Geh jetzt wieder rauf.“
Anneliese gehorchte.
Als er dann, der Last entledigt, wieder nach oben kam, riet Anneliese ihm, das nächste Mal den Koffer mit hinunterzunehmen. Sie hatte ihn auf der ersten Stufe der Kellertreppe vergessen.
,,Sie hat bestimmt Hunger.“
,,Vergiss sie.“
Anneliese gehorchte.
Die Sache war schnell vergessen. Aus Stolz sagte Fritzl der Polizei, dass er allein gehandelt hätte. Angelika hatte ihnen von dem Glas mit Valium erzählt und von der Tür, die nach frischer Farbe gerochen hatte. Der Rest war Nebel. Anneliese behielt bis zum Gang ins Verlies jeden Augenblick dieses Morgens im Gedächtnis. Eine Erinnerung, auf die das Siegel des Verbotenen gedrückt worden war, eine plombierte, verschwommene Erinnerung. Selbst wenn sie ihr ins Bewusstsein gekommen wäre, hätte sie nur ihre Schale gesehen, und die wurde immer härter, je mehr Jahre vergingen. Selbst bei einem schmerzlichen Verhör wäre nichts zutage gekommen.
Am Abend kam Thomas und fragte, wo Angelika sei. Fritzl nahm ihn beiseite und legte ihm die Hand auf den Rücken, wie um ihn im Vorhinein zu trösten.
,,Heute Morgen hat ein Bursche im VW sie abgeholt. Sie hat ihre Sachen mitgenommen. Sie hat nicht gesagt, wann sie wiederkommt.“
Auf dem Nachhauseweg weinte Thomas. Ein paar Wochen Liebeskummer, dann nur noch die Wut im Herzen, sitzengelassen worden zu sein.
Nachdem die anderen Kinder Angelika nicht mehr sahen, trauten sie sich irgendwann nicht mehr zu fragen, wo sie sei.
,,Eure Schwester geht in Wien auf den Strich.“
Anneliese war das Echo des Patriarchen.
,,Auf den Strich.“
Sie stellte sich ihre Tochter vor, wie sie auf dem Pflaster von Wien von einem Fuß auf den anderen tritt, geschminkt, nackt unter einem Lackrock, mit einer winzigen Umhängetasche.
Angelika erwacht. Absolute Dunkelheit. Sie meint, sie schliefe noch, döst wieder ein. Sie kann nicht mehr schlafen. Das Halsband drückt, schmerzt. Sie versucht aufzustehen. Noch immer Nacht. In einem Albtraum muss sie wohl versucht haben, sich zu strangulieren. Sie schaudert. Sie ist nackt. Sie schreit lange, verstummt. Macht einen Schritt vorwärts, noch einen. Die Kette hindert sie am Weitergehen. Sie berührt etwas Glattes, Kaltes. Ertastet einen Wasserhahn. Sie erstickt fast, als sie ihn aufdreht. Sie kann sich nicht bücken, um zu trinken. Sie benetzt die Hand, führt sie an den Mund. Ein paar Tropfen Wasser auf der Zunge.
Das Licht geht an. Sie ist geblendet, weicht zurück, hält sich die Augen zu. Er kommt herein. Seine Stimme ist ruhig, gesetzt. Ein fast schon liebenswürdiger Schließer, der einem neuen Gefangenen die Regeln aufsagt.
,,Du darfst nicht schreien. Ich bringe dir von Zeit zu Zeit Essen.“
Er blickt die Urinpfütze an, die sie an ihrem Schlafplatz gemacht hat.
,,Das Klo ist dort.“
Er zeigt ihr die Kloschüssel. Zieht sie am Arm, setzt sie darauf. Sie muss ihren Hals recken, damit sie nicht erstickt.
,,Ich lasse das Licht brennen.“
Er umfasst die Kammer mit einer Handbewegung.
,,Bis du dich eingewöhnt hast.“
Sie blinzelt. Erkennt den Bunker. Die Kette ist nicht lang genug, um zu den Bänken zu gelangen. Aber egal, sie sind genauso hart wie der Boden.
,,Du hast jeden Komfort.“
Er lacht. Angelika stürzt sich auf ihn. Er weicht einen Schritt zurück. Das Halsband würgt sie. Wieder sein Lachen.
,,Ich lasse dich allein.“
Er schließt die Tür hinter sich. Sie hockt auf dem Boden.
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