Claustria (German Edition)
du vielleicht wieder rauf.“
Ein paar Jahre Dressur, und sie wäre wie einer dieser Hunde, die selbstständig mit der Pfote die Türklinke aufdrücken können, wenn sie nach ihrem Gassi-Gang wieder nach Hause kommen.
Angelika träumte von sonnigen Straßen, von kalten Straßen, von Straßen im prasselnden Regen, vom Knirschen ihrer Schritte im Dezemberschnee. Jeden Morgen Kaffee vor dem Fenster trinken, durch das große Haus laufen, ihr Bett bei Helligkeit machen, sich vom Leuchten der Sterne blenden lassen, wieder den Duft neuen Stoffs in den Geschäften riechen und den Geruch von Gewürznelken, der damals noch in Zahnarztpraxen hing.
Eine eingeschränkte, überwachte Freiheit, die ihr zum wiedergefundenen Glück genügen würde. Im Sommer würde er ihr erlauben, mit der Familie in die Ferien zu fahren. Kurze Wanderungen in der Nähe der Berghütte, die Tannen riechen, das Gras, ja den Himmel, dessen Blau sicherlich einen Duft auf die Erde verströmte. Sie würde gern wieder Stimmen um sich herum hören, irgendwelche alltäglichen Unterhaltungen, Einkaufspläne fürs Mittagessen – der Geschmack einer roten, reifen Tomate im grellen Mittagslicht –, das Lachen ihrer Geschwister, die Schreie ihrer Mutter, die durch die Zimmer mit den hohen Decken hallten und sich in der Atmosphäre verloren, ohne den Eindruck von Ewigkeit zu erwecken wie die Schreie ihres Vaters.
Sie lernte zu träumen. Sie hüpfte durch eine Parallelwelt, ohne sich durch ihren schwerelosen Körper behindert zu fühlen. Eine wundervolle Genesung, die unendliche Freude, ein für alle Mal von den Toten auferstanden zu sein. Fritzls Vergewaltigungen wurden zur Gewohnheit – ein kleiner Obolus für ein Leben in Wonne.
Menschen laufen sehen, Kinder rennen sehen, Geräusche, Auspuffgase, das Blau, das Wolkige, das Grau des Himmels. Das Haus voller Fenster, die Scheiben zwischen den Wänden, das Draußen flutet herein. Die Farbe des gelben, kahlen Winterrasens im Garten, Laub, Knospen, der Pool wieder mit klarem, türkisblauem Wasser voller goldener Reflexe an den ersten schönen Tagen Ende Mai.
Die lauen Nächte. Die Minute hinauszögern, bevor man sich schlafen legt, die Fensterläden schließt. Noch einmal aufstehen und durch die Ritzen einen letzten Blick auf die Straße werfen, sein Gesicht durchs offene Fenster schieben und die Erinnerung an draußen mit in den Schlaf nehmen.
Wohliges Erwachen. Während der Radioberichte über die Ereignisse der vergangenen Nacht Brot toasten. Das Haus, das nach und nach wieder in Gang kommt, das Schlurfen der Hausschuhe auf dem Korridor, die Wasserspülung, die Dusche, das Schimpfen, wenn man keine Socken im Schrank findet, wenn die Zahnpasta aus ist und kein Orangensaft im Kühlschrank, und dann ist für September auch wirklich viel zu schlechtes Wetter …
Der erste Streit wegen eines dicken Stücks Brot, das jemand am Tischeck liegen ließ, über das verzogene Gesicht eines schläfrigen Menschen, der gerade Tee in eine Tasse eingießt – wegen nichts. Ein Tag, der sich mühselig aus seinem Ei schält wie ein kleines Küken, von dem man nicht weiß, ob es hinken oder einen unverhofft ins Paradies führen wird.
Sechs Monate nach Angelikas Gang in den Keller riss Fritzl zwei Wände ein. Die sanitären Anlagen des Bunkers, die gemauerten Bänke wurden abgebaut, vom Boden zur Decke Regale gezogen.
,,Eine Speisekammer für dich. Ich kann Kartoffeln für ein halbes Jahr einlagern.“
Sein Lachen.
,,Solange es Vorräte gibt, wirst du leben.“
Er richtete ein Badezimmer ein. Sitzbadewanne, Waschbecken mit Spiegel, Toilette. Auf der gegenüberliegenden Seite Kochplatten, Spüle, Backofen – eine weiße, multifunktionale Küchenzeile. Tür und Verkleidung des Kühlschranks musste Fritzl abmontieren, damit das Gerät durch die Schleuse passte. Ein paar Wochen später kam die Waschmaschine in Einzelteilen.
Am Ende einer gemauerten Röhre lag ein quadratisches Zimmer mit einem großen Bett. Die Matratze hatte Fritzl zusammengerollt und zusammengebunden, um sie durch die Schleuse zu transportieren. Den Bettrost hatte er selbst gebaut, die Eisenstangen geschweißt, ein Drahtgitter angebracht und es fest im Boden verankert, als fürchtete er, es könne während ihres Beischlafs heimlich davonfliegen. Es gab kein Holz im Bau – er hatte Angst, Angelika könne einen Splitter ausreißen und ihn als Waffe benutzen.
Daneben geduldete sich das künftige Kinderzimmer. Fritzl würde Martins Geburt abwarten, um die
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