Claustria (German Edition)
Schläge, Ohrfeigen, abgefeuerte Beschimpfungen, Geschosse, die klaffende Wunden rissen. Worte wie Vergewaltigungen, Worte, die berühren, eindringen, herumwühlen, kratzen und das Fleisch besser angreifen als Taten.
Heute Abend war diese Stimme wie Balsam, mit dieser Stimme würde er eines Tages mit Roman sprechen, während er ihm die Haare vor einem Zeichentrickfilm zerzaust, über den sie beide lachen und dabei den Duft des Kuchens einatmen, den Angelika aus dem Backofen zieht.
,,Die Kindheit ist schwer. Auch meine war schrecklich. Am Ende seiner Jugend kommt man wie aus einem Tunnel heraus. Danach lebt man. Ja, man lebt wirklich. Man fühlt sich frei, man hat das Gefühl, man ist in einem Geschäft und kann sich bedienen. Aber dann fällt man aus allen Wolken, man schlägt im Leben auf. Man muss etwas aufbauen, eine Familie gründen, seine Pflicht als Mensch tun. Das ist nicht lustig, es ist auch nicht traurig, so ist eben das Leben. Du wirst sehen, mehr wirst auch du nicht zustande bringen.“
Wieder das Ticktack der Schritte.
,,Ich bin grob, ich habe noch nie jemandem etwas Nettes gesagt. Ich bin unbarmherzig, der Krieg hat mich gelehrt, mutig zu sein und mich nicht erweichen zu lassen. Seine Pflicht tun heißt, die Zähne in seine Beute zu schlagen und sie nie mehr loszulassen. Man hat die Pflicht, irgendwo eine Familie zu gründen. Heutzutage gehen die Kinder zu früh aus dem Haus. Sie rennen in ihr Verderben, sie werden Sklaven der Spaßgesellschaft. Von Disziplin will heute keiner mehr etwas wissen, Leiden schreckt die Menschen. Mein Vater ist an der Front gefallen, deine Großmutter hat ihn nicht geliebt. Du kannst sicher sein, dass er nie Spaß gehabt hat.“
Er seufzte.
,,Wie früher alle hier hat er den Schmerz dem Vergnügen vorgezogen. Er hat gewusst, wie treu der Schmerz ist, das Vergnügen aber geht fremd. Auch dieses Schwein von Hitler hat gelitten, er hat seine Position nie ausgenutzt, um zu faulenzen wie ein Pascha. Um seinen Traum zu verwirklichen, ist er in seinem Bunker gestorben – dabei hat er die Natur, Hunde, seinen Adlerhorst in Berchtesgaden doch so geliebt.“
Sie näherten sich dem Haus. Ihr Weg beschrieb einen Bogen. Sie entfernten sich, gingen an den Gärten entlang, die nach dem Gießen am Abend nach feuchter Erde rochen, als würden sie die Hitze des Tages ausschwitzen. Hin und wieder blieben sie stehen. Angelika beobachtete ihren Vater aus dem Augenwinkel. Er fing wieder an zu reden. Man muss das Wild hetzen, bevor man zum Halali bläst.
,,Jeder hat einen Traum. Mein Traum war, Erfolg zu haben. Ich wollte meiner Mutter beweisen, dass sie mich nicht umsonst streng erzogen hatte. Eines Tages wirst du selbst Kinder haben und das verstehen. Man liebt seine Kinder nicht immer so, wie man sollte. Ich habe dich zu sehr geliebt, ich habe meine Mutter zu sehr geliebt, ich kann nichts dafür, dass ihr euch ähnlich seid. Körperlich war deine Großmutter anfällig, aber innerlich war sie stark wie eine Festung. Ich weiß, dass sie es nicht ertragen hätte, von Krankheit geschwächt zu wirken, sie ist friedlich da oben gestorben. Ich habe meine Pflicht getan, du wirst die deine tun. Man hat die Möglichkeit, die Pflicht dem Glück vorzuziehen. Man hält es im Zaum, man dreht ihm den Hals um und wird stattdessen selbst sein Glück.“
Angelika hörte ihn undeutlich. Sie staunte, dass sich ihr Vater auf einmal so sehr mit dem Glück beschäftigte. Aber vielleicht sprach er auch vom Unglück – die Worte klingen ja ähnlich.
,,Man findet das Glück, wenn man es verschmäht. Es ist ein böses Tier, man muss es bändigen und einsperren wie eine tollwütige Hündin. Meinst du etwa, in Mauthausen waren sie glücklich? Natürlich nicht. Aber dort hat jeder seine Pflicht getan, sowohl die SS als auch die Toten. Deine Großmutter hat überlebt, weil sie ihre Pflicht als Arierin getan hat, und die anderen haben sich eben pflichtgemäß abschlachten lassen. Sie hatten Angst – es war ihre Pflicht, Angst zu haben. Auch du wirst deine Pflicht tun. Du wirst feststellen, dass Glück eine Lüge ist. Du wirst es foltern, damit es spricht, und am Ende wird es dir die Wahrheit sagen.“
,,Ich bin glücklich.“
Aber diese Worte sprach sie nicht aus, und die Faust kam nicht. Sie hörte Geräusche, die Worte des Vaters wie das Klacken der Schritte. Ihr Bewusstsein schlummerte, die Stimme war wie eine Tsetsefliege. Nur die Umgebung hörte ihr Summen. Die Stimme war so laut, dass sie eine alte Frau
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