Claustria (German Edition)
drückte ihr die Schultern hinunter, und sie ließ sich langsam fallen.
,,Trödle aber nicht herum!“
Der Hass schien in Annelieses Gesicht eingemeißelt zu sein.
,,Du bist erst morgen volljährig. Bis dahin gehorchst du!“
Angelika sah das Essen an, ihr war übel. Fritzl hatte die Hand der Mutter zurückgehalten, die sich schon erhoben hatte, um ihr einen Schlag auf die Schläfe zu verpassen. Er setzte zu seiner Predigt an.
,,In deinem Alter bin ich ein armer Bub gewesen und habe alles gegessen, was ich gefunden habe. Ich war hinter dem Essen her, ich wollte nicht, dass mein Körper zugrunde geht. Bei jedem Bissen habe ich den Eindruck gehabt, Energie in mein Gehirn zu schicken. Ich wusste, dass es wachsen musste, der Verstand wächst ein Leben lang und braucht täglich eine Menge Kalorien. Und statt Diäten zu machen, sollten die guten Frauen lieber mal ein, zwei Stunden am Tag nachdenken.“
Angelika erinnerte sich an sein Lachen. An das, was er gesagt hatte, erinnerte sie sich nicht mehr. Immer diese monotone Leier mit einer Melodie aus Worten. Niemand erinnert sich, er selbst vergaß sie mit der Zeit. Vielleicht reihte er unzusammenhängende Wörter aneinander, Silben, wirre Buchstaben.
,,Je mehr du isst, desto besser bist du in der Lage, das Leben zu begreifen.“
Nun aß sie. Ein Automat. Der Mund geht auf, das Essen wird hineingeschoben, die Zähne kauen, die Bissen rutschen in den Magen. Sie aß wie im Leerlauf, mit regelmäßigen Bewegungen, ohne zu stocken, flüssig. Er redete weiter, Hintergrundmusik, Hammerschläge eines Sklaventreibers auf einem Holzklotz, damit die Galeerensträflinge im Takt rudern.
Nach dem Essen bugsierte Anneliese ihre Tochter in die Toilette.
,,Du musst gut vorbereitet sein, vielleicht gibt es nicht überall sanitäre Anlagen.“
Der Körper setzt sich, der Bauch gehorcht. Dann bringt sie Angelika ins Bad. Sie zieht sich aus, die Mutter stellt die Dusche an, sie seift sich ein.
,,Die Haare, wasch dir die Haare.“
Sie selbst gießt ihrer Tochter Shampoo auf den Kopf, reibt sie ab wie einen Treppenknauf, spült sie ab, trocknet sie grob in der Duschkabine ab.
Anneliese führte sie in ihr Zimmer. Sie begegneten Fritzl auf dem Gang. Der Vater war gleichgültig gegenüber der Nacktheit der Tochter. Noch immer ein lächelndes Gesicht, auf dem man unter Umständen ein Zeichen der Unruhe erkannt hätte. Kurz vor einem Überfall hat man immer Angst vor einem Körnchen Sand im Getriebe.
Anneliese ließ die Tür einen Spalt offen. Sie holte Kleider aus dem Schrank.
,,Lass mich, ich ziehe mich allein an.“
Unter dem starren Blick der Mutter zog sie sich an. Mit ihren schwarzen Augen zielte sie auf ihre Tochter wie mit Kanonenkugeln aus Kohle.
Fritzl überwachte das Ganze vom Türspalt aus.
,,Gut, ich gehe jetzt. Morgen komme ich und hole meine Sachen.“
Ein Moment der Rebellion. Sie riss die Hand ihrer Mutter weg, die sie am Arm gepackt hatte. Fritzl ging voraus, er fing wieder an zu reden. Eine Kakophonie.
,,Deine Zukunft. Die Eltern wissen Bescheid. Sie machen sich Sorgen. Wer wird dich mehr lieben als wir? Die Thomasse dieser Welt ändern ihre Meinung, die Gefühle der Eltern sind immer gleich. Ein letztes Glas. Die Zukunft, da fällt man für lange Zeit hinein. Ein letztes Gespräch. Man erzählt sich, bevor man sich verlässt. Die Väter schweigen zu oft, die Töchter sagen nichts. In der Küche Sprudel, Blasen.“
,,Lass mich durch.“
Er lässt sie durch. Die Eingangstür ist zweimal abgeschlossen. Sie rennt ins Wohnzimmer, will durchs Fenster steigen. Schwindel, dennoch wäre sie nach dem Sturz in den Garten mit der Beweglichkeit ihrer achtzehn Jahre wieder aufgestanden, ohne groß Schaden genommen zu haben. Fritzl hinter ihr, sein Arm um ihre Brust. Er drückt sie an sich.
Unvermittelt findet sich Angelika in der Küche wieder. Auf dem Tisch ein Glas Cola. Anneliese stößt einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie ihre Tochter trinken sieht.
Angelika ist noch immer entschlossen, wegzugehen.
,,Gib mir den Schlüssel.“
Fritzl fängt wieder an zu reden, während er in seiner Tasche wühlt. Sie hört nicht zu, der Bann hat seinen Zauber verloren. Sie zeigt Nerven, boxt gegen seinen Brustkorb. Die Faustschläge werden immer schwächer. Sie wird schlapp, sackt zu Boden, kauert da und verlangt noch immer den Schlüssel.
,,Hier, der Schlüssel.“
Er schüttelt den Schlüsselbund. Sie versucht ihn mit dem Mund zu fassen. Ein Reflex, sie hat keine Kraft
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