Claustria (German Edition)
sie die wertvollen Lebensmittel. Pastete, Schinken, zwei Sorten Salat, eine Torte, zwei Flaschen Sekt. Grundnahrungsmittel, darunter ein halbes Kilo Butter in silberner Verpackung und ein Kilo Zucker in einer rosa Hülle mit aufgedruckten Weihnachtsmännern.
Wenn man immer Angst vor Mangel hat, sind selbst ein paar Äpfel ein Grund zum Jubeln. Es gab nicht nur Golden Delicious, sondern auch Weintrauben, einen Sack Walnüsse, eine Ananas – diese Frucht verströmte für Angelika den Duft einer Traumhochzeitsreise nach Martinique.
Drei Päckchen in Goldpapier mit roten, blauen und gelben Schleifen ordnete sie in einem Dreieck in der Mitte des Tischs an. Ein kleiner Tannenzweig mit falschem Schnee. Sie legte ihn auf die Geschenke.
Fritzl zieht sein Taschenmesser heraus, schneidet die Kapsel auf und entkorkt den Sekt, den er in einem Glas mit angeschlagenem Stiel probiert. Das Essen ist schon auf Teller verteilt, der Tisch gedeckt, Angelika hat die Kerze vom letzten Jahr angezündet. Auf allen vieren kreisen die Kinder um den Tisch. Martin kann kaum mit seiner Schwester mithalten, so aufgekratzt ist sie.
,,Ich glaube, wir können zu Tisch gehen.“
Worte der Hausherrin. Festtagslächeln auf den Lippen. Fritzl setzt sich als Erster, er nimmt Petra auf den Schoß und setzt auch Angelika und Martin darauf. Ein fröhliches Abendessen.
Angelika kommentiert die Pastete.
,,Man kann die Pilze wirklich herausschmecken.“
Der Sekt ist gut, die Bläschen platzen auf dem Gaumen, sein Bouquet entfaltet sich im Abgang. Ein Schwips. Angelika erinnert sich an die denkwürdigen Besäufnisse mit Thomas. Sie schenkt sich nach und hofft, Thomas würde in ihr verblassen.
,,Und jetzt die Torte!“
Die Kinder lachen. Fritzl steht auf, schreitet mit seinem Taschenmesser zum Anschnitt. Angelika hat ihren Anteil schon vertilgt, bevor der Vater sich wieder auf den Sessel hocken kann.
,,Du bist ein Fresssack!“
,,Ich werd’s nie mehr machen.“
Der Satz eines gescholtenen Kindes.
,,Du bist wirklich keine, die man heiraten kann. Du bist so eine, bei der der Mann nach einem halben Jahr schon die Scheidung einreicht.“
Sie wird rot.
,,Du würdest deinen Kindern das Brot wegfressen.“
Er füttert Petra mit dem Löffel kleine Häppchen. Bei jedem Bissen kreischt sie auf.
,,Anneliese würde sich besser um die Kinder kümmern. Sie ist eine echte Mutter. Sie konnte noch nie etwas anderes, aber das macht sie gut.“
,,Entschuldige.“
,,Ständig muss man dich entschuldigen!“
Mit glasigen Augen stopft Angelika ihrem Martin Kuchen in den Mund.
,,Ich bin nie für meine Mühen belohnt worden. Ich hätte auch oben bleiben und Däumchen drehen können. Deinetwegen musste ich im Supermarkt anstehen, ich bin ewig auf der Autobahn gestanden und musste warten, bis der Schneepflug kommt. Und alles nur, um in dieses Loch hier zu kommen, wo du an nichts anderes denkst als daran, dich vollzustopfen.“
Sie hätte gute Lust gehabt, aufzubegehren und ihm den Rest des Kuchens ins Gesicht zu schleudern. Aber sie hat Angst vor Schlägen und fürchtet, dass er die Lebensmittel aus Kühlschrank und Schränken wegwerfen, sie zusammentrampeln könnte, bevor er ging und Licht und Wasser abstellte.
,,Ich habe großen Hunger gehabt.“
,,Du wirst fett. Wenn man tagsüber nicht rausgeht, muss man Diät halten. Bald passt du nicht mal mehr durch die Schleuse, dann muss ich mir auch nicht mehr die Mühe machen, abzusperren.“
Fettleibigkeit sollte zum Fluch des Kellers werden. Trotz der regelmäßigen Hungerperioden war das Völkchen überernährt. Essen war eine der wenigen möglichen Beschäftigungen. Die Küche war eine Art Religion und Angelika die Hohepriesterin, die pietätvoll die Räucherpfannen füllte.
Petra hatte später während ihrer drei Monate dauernden Erkrankung siebzehn Kilo verloren, Martin und Roman waren dick und schwer aus dem Keller gekommen.
Wenn die Kinder krabbelten, schleiften ihre Bäuche über den Boden. Aufrecht machten sie kleine linkische Schritte wie Taucher mit der Ausrüstung auf dem Rücken. Neben ihnen wirkte Angelika schlank. Sie überschritt das Idealgewicht, das 2007 von der US-amerikanischen Lebensmittelüberwachungs- und Arzneizulassungsbehörde FDA ermittelt worden war, nur um knapp fünf Kilo.
Nach Romans Geburt beschloss Angelika, ihr Doppelkinn, ihre dicken Schenkel und ihr Hüftgold loszuwerden. Sie hatte Angst, verstoßen und in diesem Loch allein gelassen zu werden wie eine in Ungnade gefallene
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