Claustria (German Edition)
verbannt.
Sie hätte Zeit gehabt, Amstetten zu verlassen und einen Mentor zu finden, der sie zum Star gemacht hätte. Die Namenlosen lebten wie Zombies auf der falschen Seite des Spiegels. Angelika wäre Nina Hagen geworden und hätte diese Thronräuberin in die Hölle der Anonymität geworfen.
Sie stand auf. Nach ein paar Schritten im Licht der Glühbirne fing sie an zu singen. Der Schall stieg vom Boden auf, sie hörte sich kaum, so laut übertönte das Hagen-Orchester sie. Der Bildschirm war eine große rechteckige Linse, die es noch zu erfinden galt, die Lautsprecher waren Ohren, die ihre Stimme und die Musik aufnahmen und sie in das Kabel zogen, das sie bis zum Dach mit hinaufnahm. Die Antenne drehte sich um ihre eigene Achse wie ein Rotorblatt. Sie beschickte die Sterne.
Was spielt es denn für eine Rolle, begraben zu sein, solange es in einem Studio ist? Stars halten sich im Verborgenen, sie geben ihre Stimme, ihre Seele, ihr Aussehen, bleiben aber immer unnahbare Ikonen. Ihr Publikum kommt ihnen so wenig nahe, als würden sie in einem anderen Jahrhundert leben.
Angelika schreit in ihre Faust, ein Mikrofon aus Fleisch und Blut. Ihre Stimme ist wie eine Bombe, deren Wucht Schleusen und Türen explodieren lässt wie Korken. Das Labyrinth ist der Künstlereingang, wo sich die Fans nach dem Konzert drängen. Eine Horde Wilder, die sich gegenseitig umbringen, um schneller zu sein. Um sich an dem Parfüm der Diva zu berauschen, an ihr zu riechen, zu schnuppern wie an einer giftigen Blume. Diese Giftwolken, die Mythen verströmen.
Angst vor der Invasion. Die Menge, ein Lavastrom. Zermalmt werden, ersticken, ertrinken inmitten dieses Einfallens von Menschen, dicht wie Wasser. Zumindest die Kinder retten! Bei einem Erdbeben rät man der Bevölkerung, sich unter Tische zu flüchten. Die Kinder unter dem Bett verstecken! In einer Lufttasche könnten sie mehrere Tage überleben. Die Retter würden die Leichen mit der Spitzhacke freilegen, sie würden einen Tunnel graben und einen Hund hineinlassen, der sie schließlich durch ihren Geruch lebender Menschen aufspüren würde.
Angelika singt nicht mehr, das Orchester ist verstummt. Der Apparat nimmt den Auftritt nicht mehr auf, um ihn an die Sterne zu schicken. Nun sendet er einen Vorspann, der auf einem Hintergrund mit schwimmbadblauen Mündern vorbeizieht. Erstaunt hört Angelika eine akustische Gitarre – die gab es in dem Orchester nicht, das sie gerade begleitet hat. Sie hört Motorradlärm, Autos, Busse, Limousinen. Das Publikum ist auf dem Weg, eine Masse aus Pilgern, zu allem bereit, um den Saum des T-Shirts zu ergreifen, in dem die Brüste des Idols schlummern.
Die Kinder, müde geworden, während sie das Goldpapier zu Schnipsel zerrissen, die nun auf dem Boden liegen, schlafen aneinandergeschmiegt, um es wärmer zu haben. Manchmal lässt Angelika die Kochplatten den ganzen Winter über angeschaltet, aber um die Kälte zu vergessen, müsste man sich schon die Finger verbrennen.
Sie packt die Kinder, zieht sie an den Armen. Ihre Schreie, ihre Angst, als Angelika sie unters Bett stopft wie zwei Koffer, scheren sie nicht. Sie schiebt sie weiter, rutscht neben sie. Die Freude, sich sicher zu fühlen im Inneren eines Schutzraums, dessen Türen den Augenblick hinauszögern, da dieser Wirbelsturm aus Verrückten hier einfallen wird.
Sie streicht den Kindern über die Köpfe, trällert mit ihrer von der Show heiseren Stimme einen Abzählreim. Sie beruhigen sich, schlafen ein. Der Fernseher brummt, ein Nörgler schildert sein Pech: trotz fleißiger Arbeit ein Leben in Talfahrt, der Lohn von Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle geringer, Lungenschaden vom Asbest, seine hilflose und niedergeschmetterte Familie muss mit ansehen, wie er immer weniger und immer kurzatmiger wird in seinem Krankenbett, das im Wohnzimmer steht, damit er den ganzen Tag bei den Seinen sein kann.
Der monotone Bericht seines Unglücks wiegt Angelika in den Schlaf. Ein stetes Plätschern, der Schlaf überkommt sie. Die tägliche Barmherzigkeit, die den Keller umgehend verschwinden lässt und Angelika in die Freiheit hinaufführt. Albträume hat sie nicht so oft, jedes Mal denkt sie, es sei der letzte, selig und gelassen überlässt sie sich dem Schlaf.
Ein unruhiger Schlaf. Gemurmel. Der rechte Arm gibt ihr die Faust wie eine Brust. Das Mikro ist wieder da, die Show kann von vorn beginnen. Ihre Stimme wird von der Musik übertönt, es sei denn, man applaudiert ihr im Traum frenetischer.
Dann leert
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