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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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Lieblingsfrau, die der Sultan in ihrem Grab verrecken und verrotten ließ. Sie verzichtete auf Zucker und Fett und rationierte stärkehaltige Nahrungsmittel. Wenn es an Essen fehlte, erlebte sie mitunter sogar ein paar fröhliche Tage, indem sie sich vorstellte, wie sie vor dem Spiegel schmolz.
    Morgens machte sie bei einer Gymnastiksendung mit, sie ahmte aufmerksam die Bewegungen des Trainers nach. Sie lief auf der Stelle, hüpfte, spreizte Arme und Beine im Takt. Erschöpft duschte sie und ging wieder schlafen, nachdem sie den Kindern aufgetragen hatte, noch leiser zu sein als der Goldfisch in seinem Glas – ein Geschenk, das Fritzl ihr 2003 gemacht hatte. Sie hatte ihn ,,Niedlich“ getauft. Er starb erst sechs Monate nach der Befreiung aus dem Keller.
    Die Langlebigkeit dieses Fisches hatte mich neugierig gemacht. Als ich an einem Zoogeschäft vorbeikam, ging ich hinein und fragte den Verkäufer. Er stand vor einem Terrarium, in dem Vogelspinnen wuselten.
    ,,Die Kräftigsten können fünfzehn, zwanzig Jahre alt werden.“
    Auf dem Gehweg rief er mir noch nach:
    ,,Der älteste Goldfisch ist angeblich 1937 mit dreiundvierzig Jahren in einem Lokal in Philadelphia gestorben, dessen Maskottchen er war.“
    Ich sagte mir, wenn ich mir heute einen Goldfisch zulegen würde, könnte er mich vielleicht überleben.
    Fritzl stellte Petra auf den Boden. Er stand auf.
    Als er gekommen war, hatte Angelika gesehen, dass ihm das Fernsehkabel aus der Tasche hing. Sie wollte ihn nicht gehen lassen, hielt ihn am Arm fest.
    ,,Bleibst du nicht zur Bescherung?“
    ,,Ich gehe besser rauf. Vielleicht kommt dein Bruder mit seinen beiden Töchtern noch vorbei, dann sollen sie nicht mit leeren Händen wieder gehen.“
    Ulrich, der älteste Sohn, war vor zehn Jahren gegangen und hatte nie wieder etwas von sich hören lassen. Anneliese behauptete, er hätte eines Tages angerufen, als Fritzl nicht zu Hause war, und hätte sie über die Geburt der Mädchen informiert.
    ,,Zwillinge. Ihre Namen hat er mir nicht gesagt.“
    Man hatte Anneliese aufs Wort geglaubt, und seitdem fragte sich beim Familienessen immer jemand, ob Ulrich nicht mit Frau und Kindern vorbeikommen und ihnen eine Überraschung bereiten würde. Sie sind nie gekommen. Als Angelika ihren Bruder nach ihrer Befreiung traf, war er geschieden und hatte statt Zwillingstöchtern drei Söhne.
    Fritzl wollte gehen. Angelika streichelte seinen Hals, nahm seine Hand und küsste sie.
    ,,Bitte, Papa!“
    Er willigte ein, sich wieder zu setzen.
    Aufs Geratewohl reichte sie Petra das Päckchen mit der roten Schleife, Martin das mit der blauen. Das dritte packte sie aufgeregt selbst aus. Alle drei enthielten je ein Säckchen durchsichtiger Zuckerl mit Pfefferminzgeschmack. Angelika nahm sie den Kindern wieder weg, weil sie fürchtete, sie könnten ihnen im Hals stecken bleiben. Sie jammerten kaum, sie spielten mit dem Goldpapier und den Schleifen.
    Fritzl blieb. Er ließ den Korken der zweiten Flasche knallen. Er trank zwei Gläser. Er schob Angelika ins Schlafzimmer. Nachdem die Wolke vorübergezogen und er mit Sekt abgefüllt war, hatte er gute Laune, war im Rausch, diese Beute zu besitzen und seinen unrealisierbaren Monstertraum verwirklicht zu haben. Er verfügte darüber noch gelassener als über eine Ehefrau, die sich jederzeit in Wohlgefallen auflösen konnte.
    Angelika kniet vor ihm, sie will die lästige Pflicht schnell hinter sich bringen. Als er seine Hose öffnet, sagt er sich glücklich und mit süffisanter Besitzermiene, dass er ja wohl das Recht habe, bei Mondschein in seinen Garten zu pinkeln. Erektion, Stöhnen, Orgasmus. Der Samen im Körper seiner Tochter verschlungen.
    Er wankt, sie stützt und führt ihn wie einen Kranken zum Bett. Der kleine Tod. Sein Kopf auf dem Kissen, sein Atem, das schlaffe Gesicht des befriedigten Liebhabers.
    Sie nimmt das Kabel aus seiner Tasche, schnell schließt sie den Fernseher an. Nur eine Minute schauen, die Geräusche der Welt hören, mit den Bewohnern des Oben verbunden sein, mit den Häusern von Amstetten und dem Rest der Welt! Eine Art und Weise des Einsseins, die flüchtige Gemeinschaft der Zuschauer, die im Theater dasselbe Stück sehen. Nachdem Angelika wenigstens die Woge menschlicher Wärme vorbeifließen spürte, könnte Fritzl den Apparat von ihr aus auch zertrümmern.
    Er sagt nichts, er döst. Er hört den Lärm junger Leute, die in einem Hof in einem Linzer Vorort Fußball spielen. Ein Kommentar zur Arbeitslosigkeit, die manche

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