Claustria (German Edition)
doch an – jeden Tag verlierst du mehr von deiner Jugend.“
Ein hasserfülltes, leises Lachen.
,,Du bist wie Wein – du reifst in der Flasche.“
Einmal hatte er Kuchen und Weißwein gebracht. Eine hingeschluderte Feier mit einer Kerze als Geschenk. Es musste Weihnachten gewesen sein, aber das hatte er Angelika nicht gesagt.
Sie betrachtete den Fernseher, schaltete ihn ein, strich mit dem Finger über die Knöpfe. Ein wütender Bildschirm, auf dem weiße Punkte knisterten. Sie drehte den Ton lauter und versuchte, in dem leeren Rauschen Worte zu verstehen.
Sie schaltete ihn wieder aus, stand auf und nahm das Kabel in die Hand, das an der Wand hing. Sie fragte sich, ob die Choräle der Mitternachtsmette noch in seinen Fasern rauschten oder ob der Tag angebrochen war. Sie hatte Lust, sich das Kabelende in den Mund zu stecken und zu warten, wie lange es brauchte, bis sie die ersten Bilder in ihrem Gehirn auftauchen sah.
Sie ging zurück und setzte sich wieder aufs Bett, ließ den Kopf in die Hände auf ihren Knien sinken. Ein Zustand, bei dem alles in ihr formlos war, ein chronischer Schmerz, das stille Leiden eines Kranken, der es schon lange gewöhnt war, sich auch zwischen zwei akuten Schüben niemals wohlzufühlen.
Sie hörte es Mitternacht schlagen. Ein Glöckchen, das in einem Loch versteckt war und von einer Ratte im Sonntagsanzug mit einer vergoldeten Krawattennadel geläutet wurde. In ganz Europa begann das Fest, aber ihre Gäste verspäteten sich zum Glück. Thomas war unvernünftig, er hätte sie nicht an der Türschwelle abpassen und sie zum Bier mit seinen unerträglichen Kumpeln mitnehmen dürfen, die in einem Beisl auf ihn warteten, um sich vor dem Liebesmahl zu besaufen.
Sie rief ihn im Wirtshaus an.
,,Manchmal verstehe ich dich nicht.“
,,Kumpel sind wichtig für einen Mann.“
,,Ich hasse dich.“
Doch das Telefon war verschwunden. Stattdessen hielt sie den Saum des Lakens in der Hand.
Aber es war sowieso nichts fertig. Sie hätte keine Zeit, dieses riesige Geflügel zu kochen. Sie würde sich mit Tiefkühlkost und einer Dose Erbsen behelfen. Sie ging in die Küche, hörte Gelächter – sie waren zurückgekommen und randalierten auf der Straße wie eine Horde Betrunkener. Sie hatte genug von diesen Kindereien. Weihnachten ist ein Familienfest, an diesem Tag betrinkt man sich nicht ohne seine Frau. Sie suchte überall das Fenster. Sie schrie sie durch die Mauer an. Die anderen aber scherzten weiter herum und taten so, als hörten sie Angelika nicht.
Sie setzt sich, lässt sich ganz sanft in sich selbst hineinfallen. Langsam findet sie wieder in die Wirklichkeit zurück. Ein geschlossener Keller, kein Zugang nach draußen, einem Draußen, das ihr nicht viel mehr nützt als das Nichts. Die Menschenfrau steht wieder auf, unterwirft sich. Sie akzeptiert es, weiterzuleben.
Ein leerer Kühlschrank, das traurige Lämpchen beleuchtet lediglich ein Stück Butter mit abgelaufenem Verfallsdatum und dem Handabdruck des Ungeheuers. Es gibt nichts Festliches in den Schränken, nur ein bisschen Reis in einer Schüssel, ein paar Zuckerstücke auf einer Untertasse. Sie nimmt zwei Töpfe, in einem kocht sie Reis, im anderen Wasser mit Zucker. Dann schüttet sie alles zusammen. Dabei kommt eine Art flacher Reiskuchen, mit Karamell überzogen, auf einem Teller heraus.
,,Fröhliche Weihnachten.“
Sie hatte nicht laut genug gesprochen, die Kinder waren nicht aufgewacht. Angelika schüttelte ihre Tochter. Petra schlug die Augen auf, sah ihre Mutter, die eine Freudengrimasse zog, als wollte sie ihr unbedingt zeigen, was Glück bedeutete. Als Reaktion verzog die Kleine das Gesicht. Sie weinte, als Angelika sie auf den Boden stellte.
Petra hatte schon angefangen zu krabbeln, als Angelika Martin weckte. Sie hatte den Reiskuchen auf das Nachtkästchen gestellt und massakrierte ihn mit einem Plastikmesser, bei dem die halbe Schneide fehlte. Sie wollte Petra ein Stück geben, der Reis fiel in kleinen Klümpchen hinunter, die auf dem Boden zerfielen. Sie hatte nur noch ein kleines Stück Karamell in den Fingern – es zerbröselte, als sie es wütend in der Hand zerdrückte.
Die Kinder schrien. Angelika wirbelte durchs Zimmer und schrie auch.
Munter tauchte Fritzl an der Schleuse auf. Nacheinander trug er zwei Kartons herein. Wie immer rettete er ihnen das Leben. Ein Aufblitzen unendlicher Dankbarkeit in Angelikas Blick. Die Freude, zu wissen, dass man dieses Mal nicht verhungern wird.
Trällernd verstaute
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