Claustria (German Edition)
Menschen gemeinerweise überkommt und ihr Leben in ärmliche Ferien am Fuße der Hochhäuser verwandelt. Angelika ist fasziniert von dem weiten Raum um diese Leute herum und von den drei Geschäften, die man im Hintergrund sieht. Sie hat das Gefühl, die frische Luft ströme schwallweise aus dem Bildschirm.
Die Schreie der Kinder, die in der Küche mit dem Geschenkpapier herumtoben, hört sie nicht. Ihr kommt es so vor, als sei die Haft vorüber, das Gefängnistor offen, vor ihr die Freiheit; so weit das Auge reicht, Himmel und darunter so unbeschwerte Geschöpfe, dass sie einem Ball hinterherrennen.
Fritzl steht auf. Angelika rückt näher an den Fernseher heran, sie versucht, nicht zu blinzeln wie eine Ausgehungerte, sie sperrt den Mund noch weiter auf, um den Teller zu leeren, den man ihr gleich aus den Händen reißen wird. Er wird die Nabelschnur durchtrennen, das Periskop in Stücke schlagen. Das Loch im Keller wird sich wieder schließen.
Fritzl hat keine Augen für den Fernseher. Der Seelenfrieden steht ihm ins Gesicht geschrieben: die Aufgeräumtheit eines Mannes, dessen Bedürfnisse gestillt sind. Er geht in die Küche. Angelika hört, wie er sich ein Glas einschenkt. Er schreit die Kinder nicht an. Unbeschwert kommt er zurück und schmatzt bei jedem Schluck.
Neben ihr bleibt er stehen, er seufzt. Er erzählt ihr von dieser Technik, die mit Riesenschritten voranschreitet. Seit einigen Jahren sind die Farben naturgetreuer, das Rot ist nicht mehr so blass, und das Rauschen im Ton ist fast unhörbar geworden.
,,Ein schönes Gerät, es wird lange halten.“
Der Keller stürzt wieder auf Angelika ein. Mit dem Gewicht der Zukunft meint sie, auch das Gewicht der Ziegelsteine zu spüren. Eines Tages wird der Fernseher bis zum Tod der Kathodenröhre ihre Leichen bescheinen.
,,Ich gehe jetzt.“
Immer dieser Stich ins Herz. Sie wagt nicht, ihn zu fragen, wann er wiederkommt. Vielleicht müsste er eine Woche lang auf Geschäftsreise gehen und hätte Zeit, sie zu vergessen.
Sie folgte ihm. Fritzl winkte den Kindern zum Abschied. Ins Spiel vertieft, sahen sie ihn nicht. Er sperrte die Schleuse auf, zwängte sich hindurch. Dennoch konnte Angelika es kaum erwarten, dass er verschwand, bevor er doch noch seine Meinung änderte und sie des Fernsehers beraubte, indem er ihn wieder außer Funktion setzte.
Er drehte sich um, sein Kopf tauchte in der Türöffnung auf.
,,Sie warten auf mich. Noch ein Silvesterfest. Deine blöde Tante Berta ist wohl gekommen. Wahrscheinlich haben sie ohne mich angefangen zu feiern. Deine Mutter hat Wildschwein gemacht. Wildschwein ist schwer verdaulich, ich sollte besser gleich einen Löffel Soda einnehmen, wenn ich oben bin. Und morgen geht es dann gleich weiter. Wenn schönes Wetter ist, brate ich den Truthahn auf dem Grill.“
So ein großer Vogel auf dem Grillrost wie ein Kotelett.
Seufzend hob er die Hand, als müsste er sich mit der Absurdität des Lebens abfinden.
,,Truthahn zu Neujahr! Und alles nur, weil deine Mutter vor Weihnachten einen Doppelpack im Sonderangebot bekommen hat.“
Angelika sah kaum sein Gesicht im Türspalt.
,,Ach ja, apropos …“
Er reckte sein Gesicht vor. Ein freundliches Lächeln wie Hitler, der bei einer Parade das Haar eines Hitlerjungen zerzauste.
,,Gutes neues Jahr.“
Dreihundertfünfundsechzig Tage springen Angelika ins Gesicht. Einem Verurteilten, der nie weiß, ob er lebenslänglich bekommen hat oder ob die Stunde seiner Hinrichtung naht, wünscht man kein gutes neues Jahr.
Er sah sie an. Mit zusammengekniffenen Augen wartete er auf ihre guten Wünsche. Leise lenkte sie ein:
,,Gutes neues Jahr.“
Er schloss die Tür hinter sich. Sie hörte das Klicken des Schlosses, das Geräusch des herabfallenden Riegels.
Zurück im Schlafzimmer, streichelte sie den Fernseher. Ein schönes Haustier, bereits mit warmem Fell, das unermüdlich und ohne störrisch zu sein die Welt zu ihr ziehen würde.
Sie legte sich aufs Bett. Kindliches Gekreische, als Nina Hagen auf dem Bildschirm erschien, eine Sängerin mit übermäßig geschminktem Gesicht, mit kohlrabenschwarz, blau oder grün gefärbtem Haar, sie war als Japanerin und Inderin gekleidet, sie sang auf einem Schrottplatz, angekettet an die Reling einer Hängebrücke, nackt auf einem Bürosessel in einem Schweinestall. Angelika war sich nicht sicher, ob sie früher in Freiheit von ihr gehört hatte, aber sie erkannte in ihr das Mädchen, das sie geworden wäre, hätte ihr Vater sie nicht
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