Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
Vom Netzwerk:
blieb bis zu ihrer Befreiung eher unregelmäßig. Hätte ihre Gebärmutter nicht beschlossen, selbst die Geburtenkontrolle zu übernehmen, hätte Angelika ohne Verhütungsmittel so viele Kinder auf die Welt bringen können, wie sie Jahre in der Gefangenschaft verbrachte.
    Seit sie in dem erweiterten Keller wohnte, machte sie mit dem Kartoffelschäler Kerben unter die Spüle. Manchmal vergaß sie es. Es war eine lückenhafte Zählung, an die sie selbst nicht richtig glaubte. Ihre Tage und Nächte entsprachen keinem Kalender, der bei den Völkern der Erde gebräuchlich wäre. Sie fragte sich, wie alt ihre Kinder wohl waren.
    Fritzl saß auf dem Bett. Mit zufriedener Miene und zusammengekniffenen Augen sah er fern. Nach einer Episode einer alten deutschen Fernsehserie aus den Siebzigerjahren kam Werbung – eine Schinkenmarke, eine neue Zuckerlsorte mit einer Füllung aus flüssiger Schokolade, eine Fast-Food-Kette, deren Schilder in Österreich immer zahlreicher wurden.
    Petra hatte erst zugesehen, dem Ganzen aber nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt als dem Nachtkästchen, das Fritzl vor ein paar Wochen gebracht hatte. Dann fing sie an, die Bilder zu unterscheiden. Flache Bilder, aber Fritzl hatte den Eindruck, dass Petra sie durchdringen konnte. Sie ging zum Bildschirm, stellte ihren Fuß auf diesen Strand, über den Kinder in gestreiften Badeanzügen rannten. Angelika zog sie grob zurück, verrückt vor Angst, dass die Kleine das Gerät beschädigen könnte.
    Petra stieß einen gellenden Schrei aus und drehte sich im Zimmer wie eine verstörte Katze, die keinen Ausweg sieht und versucht, sich in den Schwanz zu beißen. Sie entkam der Hand der Mutter und stürzte sich mit dem Kopf voraus auf den Fernseher. Der Apparat wackelte. Petra fing an zu weinen – aus Enttäuschung, von diesen Kindern zurückgewiesen worden zu sein, die glücklich im Wasser spielen durften, das sie durch diese Luke in ihrem Gefängnis sehen konnte. Unerträglich lautes, wütendes Kindergeschrei. Martin schleuderte einem Clown, der gerade aufgetaucht war, um einen Müsliriegel mit dem Geschmack von Schaumerdbeeren zu bewerben, den Hasen ins Gesicht.
    Fritzl klatschte in die Hände wie ein Schulaufseher, der andeuten wollte, dass die Unterrichtspause nun vorüber wäre. Er gab den Kindern Klapse und boxte ihre Mutter, die seit dem letzten Monat mit Sophie schwanger war, in den Bauch.
    ,,Ihr verdient kein Geschenk, ihr verdient überhaupt nichts!“
    Er hob den Plastikhasen auf und zerdrückte ihn in der Hand.
    ,,Kein Spielzeug mehr – gar nichts mehr!“
    Er zog den Stecker des Fernsehers heraus, rollte das Antennenkabel zusammen und steckte es ein – diesen Infusionsschlauch, durch den die Welt gerade eben für eine kurze Weile in die Gruft gefallen war.
    Er plünderte den Kühlschrank.
    ,,Ihr verdient es nicht mal, zu essen.“
    Bevor er verschwand, ohrfeigte er Angelika mit lässiger Hand. Mit der Schuhspitze stieß er Petra weg, die in diesem Raum, in dem keine Sonne aufging, um die Himmelsrichtungen zu weisen, völlig die Orientierung verloren zu haben schien.
    Für ein paar Stunden gab es keinen Strom, kein Wasser, so lange, dass sie sich vorstellen konnten, all das käme gar nie mehr. Tagelang verdorbenes Essen. Tränen flossen, wenn Angelika auf dem Bett lag und das Kabel an der Wand baumeln sah. Sie versuchte, sich all die Bilder wieder ins Gedächtnis zu rufen, die sie gesehen hatte während dieser kurzen Zeit, in der das Fernsehgerät gelaufen war.
    Petra erinnerte sich an den Clown, er stand ihr wieder vor Augen wie eine Bedrohung. Sie sehnte sich nach dem Meer, sie fing an zu rennen, um die Kinder einzuholen, um sich unter sie zu mischen.

Ein paar Tage vor der Installation des Fernsehapparates hatte Fritzl seiner Tochter verkündet, dass bald Weihnachten sei. Damit hatte er ihr zum ersten Mal einen Hinweis auf die Zeit gegeben.
    ,,Weihnachten?“
    Ein gefährliches Wort, eine Erinnerung.
    ,,Du klingst enttäuscht.“
    ,,Welches Jahr haben wir?“
    ,,Du musst dir nur anschauen, wie groß die Kinder geworden sind. Man braucht keinen Kalender, um zu wissen, dass die Jahre vergehen.“
    Die Kinder wuchsen. Aber Kinder sind keine Uhren. Manche laufen mit elf, andere erst mit vierzehn Monaten, es gibt kleinere und größere, und vielleicht verlangsamte die spärliche Luft im Keller ihr Wachstum oder regte es im Gegenteil erst an wie ein Aufenthalt im Gebirge.
    ,,Wenn du wüsstest, wie viele Weihnachten du verpasst hast! Und sieh dich

Weitere Kostenlose Bücher