Claustria (German Edition)
Bitten murmelnd, versucht sie, sie in den Griff zu bekommen. Und dann schläft sie neben ihnen auf dem Boden ein.
Als sie wieder aufwacht, sind sie entschwunden.
Fritzl lässt sich Zeit. Ein wohltuendes Gewitter, den Blitz fürchtet man, den Regen aber erwartet man mit offenem Mund. Die letzten Scheiben Zwieback, morgen wird sie die Krümel aus der Packung an die Kinder verteilen. Warmes Wasser mit einem Rest Zucker, um den Hunger zu überlisten.
Er kommt, stellt einen Karton Lebensmittel ab, geht wieder. Sie stürzt sich darauf, weckt die Kinder, denen sie eine Stunde zuvor befohlen hat, zu schlafen.
,,Wer schläft, braucht nicht zu essen.“
Sagt man.
Das große Fressen. Das Fleisch roh hinuntergeschlungen, das ungekaute Brot schürft die Kehle auf. Übelkeit, voller Bauch und die verzweifelte Angst, dieses ganze Essen wieder zu verlieren, wenn man sich auf der Toilette übergibt.
Die Zeit verstreicht. Eine Nacht vergeht. Am Morgen eine karge Mahlzeit, man soll nichts vergeuden, indem man sich so vollfrisst, dass einem schlecht wird. So bald kommt er vielleicht nicht wieder.
Fritzl tauchte mit einem Fernseher auf dem Arm wieder auf. Ein kleines Telefunken -Gerät, das er in der Küche auspackt. Er bringt einen Stecker am Kabel an, hängt den Apparat ans Netz, verbindet ihn mit der Antenne. Ein Rauschen, grauer Schnee auf dem Bildschirm. Er drückt die Knöpfe. Stimmen, Gesichter, eine blaue Pepsi -Dose, ein Rodel-Champion voller Werbelogos, der im Schnee stehend in der Sonne interviewt wird, ein Zeichentrick-Kojote, eine Wetterkarte, auf der man über Salzburg dicke, schwarze Wolken sieht.
Fritzl stellt den Kontrast ein, dreht die Höhen hinein, die Bässe heraus. Er dreht sich um und überreicht Angelika feierlich die Fernbedienung. Sie hat Martin auf dem Arm, der am Daumen lutscht. Sie stellt ihn auf den Boden, wo er anfängt zu brabbeln und zu einem Plastikhasen aus fluoreszierendem Rosa robbt, der neben das Bett gefallen ist.
,,Hier nimm, sie gehört dir.“
Ihre Hand zittert, sie hat den Eindruck, das Kommando über ein Schiff zu übernehmen. Die Wirklichkeit strömt voller Farben und voller Geräusche herein, die sie schon so lange nicht mehr gehört hat. Das Draußen stürzt wie ein Wasserfall in den Keller, und indem sie den Sender umschaltet, hat sie die Macht, einen Wasserfall abzustellen und einen anderen anzudrehen, und wenn sie ganz schnell zappt, hat sie das Gefühl, ihre Fluten würden sich vermischen.
,,Das ist dein Weihnachtsgeschenk.“
Petra klammert sich an ihre Mutter.
,,Sagst du nicht Danke?“
Auf Fritzls Lippen spielt so ein Lächeln, wie es einem Wutanfall vorausgeht. Von diesem Lächeln besitzt er eine ganze Palette, eine echte Sprache, die Angelika schon von Kindesbeinen an gelernt hat.
,,Danke, vielen Dank. Kinder, sagt Danke zu Papa.“
Petra wurde schon dazu abgerichtet, Fritzls Hand zu küssen – wie einen Bischofsring, wie ein Hund die Hand seines Herrchens leckt.
,,Das ist ein schönes Geschenk. Tu so, als sei jeder Sender dein Weihnachtsgeschenk.“
Er tätschelt den Bildschirm.
,,Hier drin sind mindestes zehn Weihnachten.“
Ein leises Lachen, ein lauter Gedankenstrich, mit dem er die meisten seiner Sätze unterstreicht.
,,Danke. Ich freue mich.“
Angelika wollte die Tage seit ihrem Gang in den Keller zählen. In der ersten Zeit war sie angekettet gewesen und hatte keinerlei Möglichkeit gehabt, etwas aufzuschreiben. Sie hatte versucht, in der Dunkelheit Kreuze in den Boden zu kratzen, aber er war zu hart. Sie wollte die Kreuze in ihr Gedächtnis einschreiben, sie sich in Siebener-, in Dreißiger- und Einunddreißigerposten merken. Bei jedem Erwachen zählte sie einen neuen Tag hinzu.
Aber ihre Nächte waren lang. Ihr Organismus tat sein Möglichstes, ihr Erleichterung zu verschaffen. Wenn Fritzl sie nicht durch eine Vergewaltigung weckte, schlief sie oft vierundzwanzig, achtundvierzig, sechzig Stunden am Stück. Sie erinnerte sich nicht einmal daran, in ihrem endlosen Schlaf aufgestanden zu sein wie eine Schlafwandlerin, um sich zur Toilette zu schleppen oder am Hahn des Waschbeckens Wasser zu schlürfen. Jedenfalls löschten sich die Kreuze regelmäßig wieder wie eine Erinnerung, mit der man nichts anfangen kann.
Als Fritzl sie von ihren Ketten befreit hatte, probierte sie, diese unwahrscheinlich vielen Tage mit den Fingernägeln zu notieren. Angelikas Periode war zwar wiedergekommen, nachdem sie sich an den Terror gewöhnt hatte, aber ihr Zyklus
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