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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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seiner Großmutter und Urgroßmutter Annette. Das Baby hatte ein Auge offen, und als Fritzl die Flamme des Feuerzeugs hinhielt, stellte er mit Freuden fest, dass dessen Augen vom selben Blau waren wie seine eigenen.
    ,,Stanislas.“
    Diesen Vornamen flüsterte er ihm ins Ohr. Er passte gut zu ihm.
    ,,Stanislas Fritzl.“
    Er würde ihn hier unter der Glocke groß werden lassen und ihn an seinem fünfzehnten Geburtstag heraufholen. Dann wäre er groß genug, um an der Tür zu läuten. Er könnte Anneliese selbst erklären, dass er in der Sekte aufgewachsen sei und diese ungebildete Gemeinschaft nun verlassen habe, damit er etwas Richtiges lernen könne.
    ,,Aber wo ist diese Sekte denn?“
    ,,Sie leben in Wohnwagen und fahren das ganze Jahr über durch Europa.“
    Stanislas würde Mathematik studieren. Seine Stirn war gewölbt, er hatte das Zeug dazu.
    Fritzl ging wieder hinauf, das Abendessen stand auf dem Tisch. Das kurz gebratene Fleisch war zäh. Rüge des Gatten. Dieses Essen war für Anneliese so erniedrigend wie alle anderen auch. Die Kinder starrten auf ihre Teller, fraßen den Braten nacheinander weg, damit man sie vergaß.
    Ein Abend mit einem Film von Louis de Funès. Anneliese wagte es, aus vollem Hals zu lachen, denn ihr Mann grinste über diesen Franzosen, der auf Deutsch von einem Schauspieler mit Fistelstimme synchronisiert wurde.
    Um elf Uhr war Schlafenszeit, das Licht wurde gelöscht, man hörte das Paar abwechselnd schnarchen.
    Um halb sechs am Morgen steht Fritzl auf. Er weckt Anneliese. Nachdem sie ihm seinen Kaffee gemacht hat, legt sie sich wieder hin. Es regnet, der überglückliche Vater lächelt den Tropfen zu, die vor dem Fenster dicht fallen.
    Um Viertel vor sieben hört er Anneliese durch die Zimmer fegen, um die Kinder aus dem Bett zu holen. Zeit, sich fertig zu machen. Keine Dusche, Katzenwäsche, einschließlich einer peinlich sauberen Rasur und des Einfettens der Haare, gefolgt von einem kräftigen Einsatz des Kamms. Ins Auto steigen, Autobahn, Büro, das Glück, eine Besprechung zu leiten und in der Unterwürfigkeit der kleinen leitenden Angestellten und der frischgebackenen Ingenieure zu schwelgen.
    ,,Heute hat es gehallt.“
    Anneliese hatte das Auto in die Garage fahren hören. Sie war durch den Garten gegangen, um Fritzl diese Nachricht zu überbringen.
    ,,Gehallt?“
    ,,Ja, die Rohre haben gehallt, es hat sich nach Kindergeschrei angehört.“
    Mit einem Blick befahl er ihr, zu verschwinden. Mit schwerem Schritt trottete sie über den durchweichten Rasen zurück zum Haus.
    Fritzl ging in den Keller. Das Licht brannte, es roch nach Windeln. Petra und Martin hockten verängstigt auf einem Regal in der Speisekammer. Die Küche war ein Chaos, schmutziges Geschirr lag in der Spüle, in einem Topf hatte sich ein Rest Ragout im Boden eingebrannt. In der Kiste schlief ein Baby, das andere in Angelikas Armen, die auf dem Bett saß. Seinem Mund entwich noch immer dieser kleine Schmerzenshauch.
    Während Fritzl durch den Garten, die Treppe hinunter und durch das Labyrinth ging, ist sein Zorn abgeklungen. Er gibt Angelika einen leichten Tritt gegen das Schienbein, bei dem sie nicht einmal mit der Wimper zuckt. Sie dreht den Kopf zu ihm. Blicklos, nur Augen.
    Er reißt ihr das Baby aus dem Arm, schüttelt es, gibt es ihr zurück.
    ,,Warum hast du so einen Lärm gemacht?“
    Angelika drückt das Kind an ihre Brust, es saugt nicht an der Brustwarze, die sie ihm in den Mund stopft. Sie schlägt die Augen nieder, hebt wieder den Blick und scheint auf einmal zu sich zu kommen.
    ,,Er ist krank.“
    ,,Ein bisschen Fieber. Fieber tötet die Krankheitserreger ab.“
    ,,Ich habe Angst, dass er stirbt.“
    ,,Die Alten sterben – er ist doch gerade erst auf die Welt gekommen!“
    ,,Wir müssen einen Kinderarzt rufen.“
    ,,Einen Kinderarzt?“
    Er lacht schallend. Das Lachen lässt seinen Bauch beben, entblößt sein Zahnfleisch. So ein Lachen sieht Angelika zum ersten Mal an ihm. Er stellt sich vor, wie der Arzt an die Stahlbetontür klopft, wie er sich mit dem Köfferchen in der Hand bückt und wie ihm in diesem Dreckloch die Luft wegbleibt. Dann müssten sie den ohnmächtigen Mann wiederbeleben und ins Schlafzimmer zerren.
    ,,Was sollen wir denn mit einem Kinderarzt?“
    Dem Kind, das sofort anfangen würde, so zu weinen, dass die ganze Stadt zusammenliefe, würde er eine Spritze geben. Dann müsste Fritzl ihm nur noch helfen, es nach oben in die Wohnung zu tragen, und ihm das Telefon in die Hand

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