Claustria (German Edition)
den Obstkorb, der auf dem Kühlschrank stand. Fritzl gab jedem einen Apfel.
,,Wir essen.“
Alle gehorchten. Mit vollem Mund bemühte sich ein jeder, lediglich die Kaugeräusche zu hören.
Fritzl legte den Apfelbutzen auf den Teller und stand auf. Er verließ die Küche und pinkelte lautstark ins Klo. Dann setzte er sich in seinen Sessel. Er stellte den Fernseher, so laut es ging. Die Nachbarn, seit Beginn von Angelikas Niederkunft aufgeschreckt, waren erleichtert, die Rufe des Publikums bei einem Boxkampf zu hören, die Angelikas Schreie ein wenig überlagerten.
Bevor sie am nächsten Morgen zur Arbeit gingen, klingelten sie bei Fritzl und beschwerten sich über die Lärmbelästigung.
,,Die ganze Nacht lief der Fernseher.“
Der Fernseher lief sogar noch immer in voller Lautstärke. Auf Angelikas Schreie war das zeitweilige Gejammer der Kinder gefolgt.
,,Ich konnte nicht schlafen.“
,,Ich musste Tabletten nehmen, um überhaupt ein Auge zuzutun.“
,,Ich musste einen Spaziergang machen, um nicht verrückt zu werden. Man hat Ihren Fernseher bis auf die Straße gehört.“
,,Ich ziehe zum Monatsende aus. Als Entschädigung bezahle ich die letzte Miete nicht.“
,,Wir ziehen noch heute Abend aus, wir bezahlen gar nichts.“
Ein Mieter hatte einen Rucksack auf dem Rücken und einen Koffer in jeder Hand.
,,Das ist unerträglich. Ich bleibe keine Sekunde länger in diesem Haus. Man könnte meinen, es sei auf einer Klapsmühle gebaut!“
Fritzl wankte zwischen der Freude, seine unterirdische Familie wachsen zu sehen, und der Verzweiflung, seine lieben Mieter zu verlieren.
,,Ich werde Sie wegen Vertragsbruchs anzeigen.“
Keiner ging auf seine Drohung ein. Fritzl zeigte auch niemanden an. Bevor er seine verlassenen Einzimmerapartments wieder vermietete, wartete er, bis er das nächste Baby heraufgeholt hatte.
Um halb neun fuhr er zur Arbeit. Es hatte aufgehört zu schneien, die Autobahn war gestreut, der Schnee geschmolzen. In einer Dreiviertelstunde war er in Linz. Auf der Fahrt hörte er Radio, Angelika hatte sich auf die andere Seite seines Bewusstseins zurückgezogen. Eine Familienangelegenheit, die ihm nicht mehr Sorge bereitete als ein Wasserrohrbruch.
Sein sturer Kunde beschäftigte ihn mehr. Noch einen ganzen Tag lang müsste Fritzl sich dessen Genörgel und Gejammer über einen Kostenvoranschlag anhören, den er astronomisch hoch fand, und er müsste noch ein endloses Mittagessen in einem verqualmten Lokal über sich ergehen lassen, während der Kunde ihm sein Herz wegen seiner Frau ausschüttete, die ihn mit einem Neffen betrog.
Gegen neunzehn Uhr war Fritzl wieder in Amstetten. Es herrschte totale Stille. Anneliese schlug sich in der Küche mit billigem Rindfleisch herum – ein gnadenloser Kampf, um die Stücke von Sehnen und Knorpeln zu befreien, von denen sie durchsetzt waren. Die Kinder lernten in ihren Zimmern für die Schule oder onanierten heimlich unter ihrem Schreibtisch.
Er hängte seinen Lodenmantel an den Kleiderhaken, ging zum Wohnzimmer. In der Tür blieb er stehen und machte kehrt.
Er ging durchs Labyrinth. Seine neuen Schuhe knarrten. Er öffnete die zweite Schleuse. Im Keller war es dunkel. Ein schaler Geruch hing über dem Gestank. Blut, ranzige Milch. Die Plazenta faulte im Mistkübel.
Im Licht seines Sturmfeuerzeugs ging er weiter. Die Familie hatte sich in Angelikas Schlafzimmer zurückgezogen. Petra und Martin lagen zusammengerollt an der Bettkante, ihre Mutter hatte sich in Embryonalhaltung unter einer Schicht aus Pullovern und Wollsachen zusammengekrümmt. Auf dem Boden, auf einem Ballen Handtücher lagen zwei kleine Menschlein, eingewickelt in Fetzen eines Lakens.
Im Keller war es still. Man hörte kaum Sophie, die Sabine auf dem Gang hinterherlief. Fritzl fing an, von lautlosen Babys zu träumen. Mit der Zeit würde Angelika vielleicht einen Haufen Kinder in die Welt setzen, die an ihre Umgebung angepasst wären, später mit leiser Stimme sprechen, mit geschlossenem Mund spielen und nie etwas kaputt machen würden.
Schließlich hörte er ein Wimmern. Er bückte sich. Eines der beiden Kinder hatte den Mund leicht offen und gab ein leises Jammern von sich, einen Hauch von Schmerz. Sein Gesicht war rot, Fritzl legte ihm die Hand auf die Stirn. Richtiges Fieber – der Beweis, dass sein Organismus gegen etwas ankämpfte.
Ein robuster kleiner Soldat, der dieses erste Scharmützel gewinnen und dem Leben später als Krieger gegenübertreten würde. Ein echter Nachfahre
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