Claustria (German Edition)
ihren häuslichen Pflichten nach und schimpfte die Kinder, manchmal ruderten ihre Arme durch die Luft, um ihnen Watschen zu verpassen. Ein ganz normaler Morgen bei den Fritzls.
Angelika ist eingeschlafen, auf dem Nachtkästchen steht eine leere Sirupflasche. Sie hat das Licht gelöscht, nur der Fernseher läuft in Zimmerlautstärke. Die Kinder spazieren umher, klettern auf die Regale, springen wieder herunter und lachen, wenn sie mit dem Po auf den Boden plumpsen.
Sie krabbeln unter dem Küchentisch hindurch – eine Eisenbrücke mit vier Beinen wie Pfeiler. Sie verstecken sich in der Badewanne – sie schützt vor den Pistolenkugeln, die tagtäglich durch Fernsehserien und Filme pfeifen. Sie kriechen durch die enge Röhre, verschwinden unter ihrem Bett. Tuschelnd stecken sie die Köpfe zusammen, schreien, lachen. Sie naschen Würfelzucker, den sie in einer Rille des Bettrostes versteckt haben.
Die Dunkelheit ist wie ein Bollwerk, ein Hindernis, das wilde Tiere abschreckt, sollten sie sich vorwagen. Eine Ratte streift sie, sie haben vor ihr nicht mehr Angst als andere vor einer Taube, die sich aufs Fenstersims verirrt hat.
Sie wollen sich ein anderes Versteck suchen, sie leeren den Karton, in dem Angelika die Kleider aufbewahrt. Sie trampeln darauf herum, Petra reißt den Karton auf, als sie versucht, sich darin zu verstecken. Sie fangen an zu lachen und verstecken sich wieder in der Badewanne, wo die Mutter sie nie finden wird. Sogar in einem Keller gibt es eine leidlich normale Kindheit.
Angelika schläft und schläft. Ihr Atem ist kaum zu hören, starr liegt sie auf dem Rücken, keine Regung in ihrem Gesicht. Ewiger Schlaf, sanfter Tod, der in ihr Zwischenstation gemacht zu haben scheint. Das Fernsehprogramm läuft durch, Vormittagssendungen, mittags eine blöde Spielshow, langweilige Nachrichten, gewürzt mit einem Attentat in einem Winkel der Welt, an dem die Österreicher noch nie daran gedacht hatten, Badeurlaub zu machen. Wieder der schrille Wecker der Morgensendung mit einem Moderator, besoffen von all dem Koffein, das er sich reingezogen hat, um den Lebensüberdruss zu vertreiben, der ihn jeden Morgen überkommt, wenn der Wecker ihn vor Tagesanbruch aus dem Bett reißt.
Das Baby weint, schreit. Die Kinder beugen sich über die Kiste. Das zornesrote Babygesicht blinkt im Licht der Fernsehbilder. Martin beruhigt es, indem er ihm seinen Daumen in den Mund steckt.
Petra nimmt es hoch, trägt es in die Küche. Der offene Kühlschrank beleuchtet den Raum. Auf einem Sackerl aus dem Supermarkt zieht Petra das Kind aus, umhüllt es mit einem Handtuch wie mit einer Toga. Sie nimmt die Milchflasche, gibt ihm tropfenweise kalte Milch.
Martin und Petra streiten, wer es halten darf. Petra gibt es her, dann schlägt sie Martin, damit er ihr das Kind zurückgibt. Sie wiegt es in den Schlaf.
Zu den Abendnachrichten fängt das Baby wieder an zu schreien. Es hat auf das Handtuch gespuckt. Wieder herzen die Kinder es, legen es eingeschlummert in die Kiste. Es ist zu einer langen Nacht aufgebrochen.
Angelika wacht auf, als ein Fernsehkoch ein Kaninchen häutet, aus dem er gleich Hasenpfeffer machen wird – was vorher aufgezeichnet wurde. Angelikas Gehirn scheint zu pulsieren wie ein Herz, es schlägt an die Schädeldecke. Mit abgehackten Bewegungen steht sie auf, verwechselt die Wand mit dem Gang. Der Aufprall betäubt sie ein wenig, sie sucht das Fenster.
Vorhänge zurückziehen, Fensterläden öffnen, das Gesicht in die frische Morgenluft halten. Sie geht durch die Küche, stolpert über die Kinder, die auf dem Boden eingeschlafen sind.
Sie kommt auf die Idee, das Licht anzuschalten. Und es war Licht – es beleuchtet die Wirklichkeit, in der Fritzl sie zu leben verdammt hat. Sie erinnert sich an das Baby, nicht aber an seinen Namen. Sie sieht ihren Vater vor sich, der es mitnimmt. Ein Aufenthalt an der Luft, damit es wieder zu Kräften kommt, eine Runde durch den Garten auf seinem Arm. Wenn es wieder zurückkehrt, wird es sich vielleicht an den Himmel erinnern.
Ihr wird klar, dass sie seit gestern weiß, dass das Baby tot ist. Sie hat sich eine Geschichte ausgedacht, um die Wirklichkeit zu überspielen, zu überlisten, sie zu einem Meinungsumschwung zu bewegen. Denn vielleicht könnte sie die Realität davon überzeugen, dass sie unrecht gehabt, dass die Wahrheit sie irregeführt hat. Als Wiedergutmachung würde diese Wirklichkeit bereitwillig alles zurücknehmen und Angelikas Traum ins Recht setzen. Fritzl
Weitere Kostenlose Bücher