Claustria (German Edition)
nicht glauben konnte. Ein Albtraum am helllichten Tag, ein jäher Blutdruckabfall, bei dem die Realitätswahrnehmung kurz gestört ist.
Im Heizungskeller hatte Fritzl ein altes Daunenbett und eine Reisetasche aus abgewetztem Leder deponiert, die er am Abend zuvor neben der Mülltonne der Nachbarn von gegenüber gefunden hatte. Er hatte Angelikas Handschrift nachgeahmt und ein paar Worte auf ein Blatt gekritzelt, das er von einem Block gerissen hatte. Den Zettel hatte er mit einem feuchten Taschentuch abgerieben, damit er so unleserlich wurde, dass Anneliese keinen Schwindel vermutete.
Er wartete, bis er hörte, wie die Wohnungstür aufging, dann legte er das Kind auf die Schwelle. Anneliese erlebte eine Überraschung, als sie es plärrend im Nieselregen fand.
Angelika auf dem Boden. Ein Überfall, ein heimtückischer Schlag, hinterrücks, den sie erst zu spät gespürt hatte. Sie schrie nicht, Tränen flossen. Sie weinte still. Petra und Martin lagen auf ihr, kleinlaut und kurz vor dem Heulen, als wollten sie einen Rüffel ungeschehen machen.
Angelika hörte Sophies Schreie oben. Sophie und ihre Babyschönheit in der Erinnerung der Mutter erstarrt. Sophie, deren Entwicklung sie mitbekommen würde. Die Stimme des Kindes, die Stimme der Jugendlichen auf dem Weg zum Erwachsensein. Die flinken Schritte auf der Treppe, das Klacken ihrer ersten Pumps im Hauseingang. Angelika stellte sich ihren Frauenkörper mit einem Babykopf vor.
Sophie in ihr, Sophie da oben, in die Zukunft der menschlichen Gesellschaft gefallen und erstarrt in der Kellervergangenheit. Als Angelika sie fünfzehn Jahre später wiedersehen sollte, kam es ihr so vor, als hätte man ihrer Tochter ein anderes Gesicht aufgesetzt. So eine spitze Nase konnte sie doch gar nicht haben, so schmale Lippen, so eingefallene Wangen anstelle dieser Rosen- und Lilienpausbacken, die sie noch vorgestern gehabt hatte, als Angelika kurz die todkranke Petra im Spital vergessen und beim Einschlafen von Sophie geträumt hatte.
,,Es werden Zwillinge.“
Im sechsten Schwangerschaftsmonat hatte Fritzl sein Urteil gesprochen. Zufriedenes Lächeln, der Stolz des Männchens über die Kraft seines Lendenstoßes.
Angelika erholte sich nur schwer von seinem Überfall. Sie hatte noch immer Albträume. Sie träumte von dem Spengler, der Latzhose, rot vom Blut, das sie seinetwegen vergossen hatte. Noch lange nach ihrer Befreiung hasste sie ihn.
,,Deine Mutter hat Zwillinge bekommen und dein Bruder auch. Das ist ein Zeichen für die große Vitalität unserer Familie.“
Er tätschelte weiter ihren harten Bauch.
,,Sie schmiegen sich aneinander, aber ich weiß genau, dass sie da sind.“
In Wirklichkeit beruhte seine Diagnose auf der Tatsache, dass Anneliese nach ihren vier ersten Kindern beim fünften Mal mit Zwillingen schwanger gewesen war. Für ihn war die Familie unten eine Kopie der Familie oben. Manchmal träumte er davon, dass Petra Angelikas Nachfolgerin werden und er auch ihr sechs Kinder machen würde, darunter ein Zwillingspaar.
,,Aber ich wusste, dass ich ihr diese Mutterschaft nicht aufzwingen könnte. Ich hätte gar nicht mehr lange genug gelebt, um die ganze Kinderschar aufwachsen zu sehen.“
Der Inspektor schaltete den Wasserkocher ein. Er schauderte. Eine Tasse Tee würde ihm dazu die Kraft verleihen, das Verhör fortzusetzen.
,,Trotzdem wäre es schön gewesen – eine Familie, die sich immer weiter fortpflanzt!“
Im letzten Monat konnte Angelika nicht mehr stehen. Erschöpfung, Schwindel, ihre Beine trugen sie nicht länger. Die meiste Zeit verbrachte sie in der Badewanne. Im warmen Wasser wog ihr Bauch weniger schwer, die Rückenschmerzen verschwanden. Dieser Zustand war fast so angenehm wie der ihrer beiden noch ungeborenen Kinder im Fruchtwasser.
Der Fernseher lief. Sie ließ sich einlullen vom Geschwätz der Schauspieler, dem monotonen Singsang der Nachrichten, die in regelmäßigen Abständen immer wieder ertönten wie die Gebetsrufe in moslemischen Ländern. Oft schlief sie ein.
Trotz der Schläge, der zeitweiligen Entbehrungen, des Schwindels, der Müdigkeit und der Schmerzen waren die Zeiten ihrer Schwangerschaft für sie die glücklichsten im Keller. Eine Euphorie wie unter Drogen, eine Sucht, ein Zustand, den sie sich permanent wünschte: ein ganzes Leben lang schwanger sein, gelegentlich entbinden und dann wieder rund werden, sobald die Nabelschnur durchtrennt ist.
Sie war nicht mehr allein in ihrem Körper. Sich zu mehreren im selben Leib
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