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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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informieren wollte.
    Durch eine Kugel, die ein Mädchen von acht Jahren einfach so abgefeuert hatte. Eine junge Polizistin bezahlte gerade an der Kasse ihre Jause, das Kind nützte diesen Moment der Unaufmerksamkeit aus und stibitzte die Pistole aus dem Koppel. Vorsichtig hob es die Klappe des Holsters an, zog mit flinken Fingern die Waffe heraus und entsicherte sie so geübt wie ein Halbstarker aus einer amerikanischen Fernsehserie – um einen Bösewicht zu spielen, wie es später den Ermittlern gestehen wird.

1971 baute Fritzl das Haus in Amstetten vollkommen um. Indem er eine Dachterrasse anbaute und Raum über dem Hof des direkt an andere Häuser grenzenden Baues gewann, trug er seinen Teil zu dem Gebäude von 1898 bei. Die ganze Hütte schloss er in einen Betonpanzer ein.
    Die Familie zog nun ins erste Stockwerk, im Erdgeschoss richtete Fritzl möblierte Einzimmerapartments ein.
    Es hieß, die letzten Mieter seien am Tag nach der Räumung des Kellers ausgezogen, entsetzt darüber, jahrelang über diesem höllischen Verlies gewohnt zu haben.
    In Wirklichkeit standen die Apartments seit langer Zeit leer. Viele Mieter hatten sich über Geräusche beschwert, einige sprachen von Lärm, Klopfen, Radau. Tag und Nacht Fernsehgeplärr, Waschmaschinenvibrationen, Babygejammer, das aus einer unterirdischen Kinderkrippe zu kommen schien, die Stimme einer Frau, die manchmal schauerlich heulte, ganz zu schweigen vom gelegentlichen Geschrei eines Paares.
    „Der Heizkessel ist sehr laut.“
    „Ja, aber jetzt haben wir Hochsommer.“
    „Der Kessel wird elektronisch gesteuert, die Hitze stört den Stromkreislauf, und er schaltet sich zur Unzeit ein.“
    „So klingt kein Heizkessel. Man könnte meinen, unter uns wohnten Leute.“
    Fritzl war froh, dass er seine verfärbten Eckzähne kürzlich mit Kronen hatte überziehen lassen und dass er nun ein strahlendes Lächeln aufsetzen konnte, ohne die Hand vor den Mund nehmen und sie verstecken zu müssen.
    „Das ist nicht nur das Fernsehen, man hört echte Stimmen.“
    „Amstetten liegt über einem Hohlraum. Der Boden ist voller Durchbrüche, Höhlen, unterirdischer Wasserläufe, die bereits im Quartär trockengefallen sind. Wenn Sie im Garten ein tiefes Loch graben, stoßen Sie irgendwann auf einen senkrechten Schacht und am Ende fallen Sie auf einen Stalagmiten und werden gepfählt.“
    Er lächelte.
    „Verstehen Sie?“
    „Nein.“
    „Das da unten ist ein Resonanzkasten, eine Echokammer. Um den Ort zu finden, an dem sich diese vermeintliche Waschmaschine befindet, deren Geräusche Sie zu hören glauben, müsste ein Höhlenforscherteam eine so aufwändige und langwierige Expedition durchführen, dass die Wäsche schon durchgelaufen wäre, wenn es endlich zu ihr durchgedrungen wäre. Und was das Babygeschrei angeht – es kommt von so weit her, dass die Kinder längst erwachsen geworden wären, bevor man sie überhaupt gefunden hätte.“
    Die Mieter sahen ihn verdutzt an.
    „Töne verwirbeln unter der Erde, sie werden durch den Nachhall verstärkt, das Echo braucht lange, bis es verklingt.“
    Die Fenster der Mieter gingen zum Garten hinaus. Nachts sahen sie Fritzl aus der Garage kommen und beladen mit Einkäufen über den Rasen laufen. Er ging gebeugt, mit gesenktem Kopf. Oft musste er mehrmals gehen, er schleppte kübelweise Waschmittel, Milch- und Windelpackungen sowie so rote, so glänzende Äpfel, dass sie aus dem Einkaufssack SOS zu schreien schienen.
    Am 26. Januar 1998 rief ein Mieter – um die dreißig, mager und leicht wie ein Fötus, Trinker und militanter Kommunist mit einem Leninbärtchen – Fritzl, der beladen wie ein Esel über den gefrorenen Rasen wankte, durchs Fenster zu:
    „Brauchst du Hilfe, Genosse?“
    Fritzl erstarrte. Er sah aus wie ein Schatten, der mit Taschen behangen war. Das gelb-weiße Logo des Geschäfts, ein Kohlkopf, der grün herausragte, schillernd wie der Schnee auf den Zweigen der Büsche.
    „Man muss sich doch gegenseitig helfen, mein Gott.“
    Fritzl rührte sich nicht. Wenn er sich einfach nicht bewegte, würde der Mann irgendwann daran zweifeln, dass er etwas gesehen hatte. Die Augen verhalten sich mitunter wie zwei trügerische Kugeln, die man besser in die Tasche stecken sollte.
    „Stimmt, man muss sich unterstützen, Bruder.“
    Der Mann kletterte auf den Fenstersims.
    „Bleiben Sie, wo Sie sind. Sie wecken ja die Leute auf.“
    Nur Fritzls Kiefer hatte sich bewegt.
    „Einem Genossen zu helfen ist eine Pflicht,

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