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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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Genosse.“
    Er fiel auf den Kies, robbte auf den Ellbogen und rappelte sich dann schwerfällig auf.
    „Ich komme, Genosse!“
    Fritzl setzte sich wieder in Bewegung. Er trat mit einem Fuß auf, dann mit dem anderen und ergriff mit abgehackten Schritten die Flucht wie eine Marionette.
    Der Mieter wollte hinter ihm herrennen, war aber betrunken und fiel hin.
    Fritzl hatte schon den Keller erreicht und die Tür hinter sich zugeschlagen. Er stellte seine Einkäufe ab, lehnte sich an die Wand und holte Luft. Er hatte nicht gemerkt, dass eine Tasche fehlte. Der Griff war gerissen, der Inhalt auf der Erde verstreut wie eine Indizienkette.
    Ludwig klopfte an die Tür.
    „Dein Kohl, Genosse, dein Kohl.“
    Ohne sich umzudrehen, rannte Fritzl in das Labyrinth. Bei Tagesanbruch verließ er den Keller wieder. Dicht am Zaun entlang ging er durch den Garten. Er schlich in die Garage. In seinem Wagen nickte er ein. Als er ins Büro kam, merkte er, dass er seine Aktentasche zu Hause vergessen hatte.
    Am Morgen stellte Ludwig sich in den Eingang. Er hatte den Kohl aufgesammelt, eine Flasche Weichspüler, eine Packung Kekse in Tierform, einen Lippenstift und einen Pornofilm – ziemlich harmlos, wenn man von der jungen Frau im Bikini auf dem Kassettendeckel ausging.
    Er hatte alles in eine Jutetasche gesteckt, die er mit beiden Händen aufhielt, um seine Fundstücke vorzuzeigen. Er sprach die Mieter an, um sie an den Fragen teilhaben zu lassen, die ihm in seinem Kater gekommen waren.
    „Mitten in der Nacht. Mit Einkaufstaschen in der Hand. Er hat sich genauso wenig geregt wie ein Baumstamm, wie ein Schurke, auf den ein Polizist zielt. Er ist in seinen Keller gerannt. Warum? Warum? Um sich eine Suppe zu kochen? Um sich zu schminken wie eine Transe? Um sich vor dem Video einen runterzuholen und dabei Kekse zu essen?“
    „Sind Sie sicher, dass Sie nicht zu viel Bier intus hatten?“
    „Gegen neun Uhr hat man Sie singen hören.“
    „So viel hatte ich nicht getrunken.“
    „Sie waren vollkommen dicht!“
    Ludwig war sich nicht mehr sicher, ob er etwas gesehen hatte. Manchmal verwechselt man den Schatten, den eine Zypresse wirft, mit der Silhouette eines Mannes mit zuckerhutförmigem Kopf …
    „Ja, aber was sollen all diese Sachen?“
    Er berührte den Kohlkopf, die Videokassette, um sich zu überzeugen, dass sie nicht nur Erscheinungen waren und sich nicht auflösten wie Rauch, wenn man sie in die Hand nehmen wollte.
    „All das.“
    Die Nachbarn hatten es eilig, zur Arbeit zu kommen. Sie traten von einem Fuß auf den anderen, sahen auf die Uhr, strichen mit schlaffer Hand über den Kohl, um zu zeigen, dass sie sehr wohl an die Echtheit des Gemüses glaubten, das er ihnen zeigte, wie gar an die Existenz von Kohl im Allgemeinen.
    „Er hat das Recht, seine Vorräte im Keller zu lagern.“
    „Und diese Frau, die nachts um drei geschrien hat?“
    Lächelnd kniffen sie die Lippen zusammen, trippelten, öffneten die Tür und verdrückten sich im Schneetreiben, das der Wetterbericht am Abend zuvor als wahrscheinlich vorausgesagt hatte.
    An diesem Tag meldete Ludwig sich krank. Zu viele Fragen gingen ihm im Kopf herum, als dass er seine Arbeitskollegen ertragen hätte, die mit dieser Geschichte auch gar nichts anfangen würden. Er hatte auch keine Lust, bis zum Abend mit dem Trinken zu warten.
    Ihm fehlte der Mut, um Bier kaufen zu gehen. Er nahm eine Flasche Wodka, die er sorgsam im Gefrierfach seines kleinen Kühlschranks aufbewahrte. Nach den ersten Schlucken stand ihm die Situation so klar vor Augen wie ein Glas Alkohol: Fritzl versteckte in seinem Keller bestimmt eine türkische Familie ohne Papiere, die illegal eingewandert war, um den Österreichern die Arbeit wegzuschnappen. Als Internationalist konnte er seinen Vermieter nur zu dessen Aktion beglückwünschen.
    „Aber warum der Lippenstift?“
    Er dachte nach.
    „Sich schön zu machen ist ein Grundrecht der Frau, das man unter allen Umständen schützen muss.“
    Er hatte gelesen, dass Ethel Rosenberg verlangt hatte, sich schminken zu dürfen, bevor sie sich auf den elektrischen Stuhl setzte.
    „Und dieser Pornofilm?“
    Er zerbrach sich den Kopf.
    „Eine Art Dokumentarfilm, damit sie das dekadente Europa mit eigenen Augen sehen können.“
    Er schlief ein. Gegen neunzehn Uhr kam er langsam wieder zu sich.
    Um zwanzig Uhr klingelte er bei Fritzl, in der Hand die Jutetasche. Anneliese machte die Tür auf. Bevor Ludwig sein Apartment verlassen hatte, hatte er auch noch das

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